Dr. Reiner Becker – Beratungsnetzwerk Hessen

von | Juli 3, 2025

Dr. Reiner Becker, Beratungsnetzwerk Hessen

Wir sprechen mit Reiner Becker vom Demokratiezentrum Hessen im „Beratungsnetzwerk Hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ an der Philipps-Universität Marburg über das Thema, das heute in aller Munde ist, aber auch schon in der Vergangenheit viele Forschende beschäftigt hat.

Wollen Sie uns ein bisschen was erzählen, wie Sie hier in der Position beim Beratungsnetzwerk gelandet sind? 

Ich komme gebürtig aus Dillenburg, habe in Kassel, Göttingen und hier in Marburg studiert. Ich habe in Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie abgeschlossen und bin unmittelbar direkt nach dem Studium in das sogenannte Graduiertenkolleg „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ gekommen, was eigentlich nochmal ein zweites Studium war. Interdisziplinär mit Soziologie, Erziehungswissenschaften, Sozialpsychologie, Politikwissenschaften und dazu gehörte die gleichnamige Langzeitstudie von 2002 bis 2012, die auch bis heute noch regelmäßig durchgeführt wird. Das Thema ist die Untersuchung von Einstellungen gegenüber gesellschaftlich schwachen Gruppen. Da geht es nicht unbedingt um die Einstellung zur Demokratie oder um eine rechtsextreme Einstellung. Man hat sich in diesem Konzept verschiedenste Gruppen angeschaut und Rassismus, Fremdfeindlichkeit, Antisemitismus und 10 weitere Elemente untersucht. Bis heute ist das sehr prägend für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus.

In dem Kontext des Graduiertenkollegs habe ich zum Thema Familie und Rechtsextremismus promoviert. Mich hat es weniger interessiert, welchen Beitrag Familie zur Entstehung von politischen Einstellungen leistet, denn das ist ziemlich bekannt gewesen, auch damals schon, sondern eher, welche Auseinandersetzungen in Familien stattfinden, wenn das eigene Kind schon auf die rechte Bahn gekommen ist. Ist die Familie dabei eine Ressource, wenn es darum geht, dass dieser Weg nicht weiter vollzogen werden wird oder begünstigt sie diesen Weg? 

Das war sehr spannend und interessant. Ich bin bis heute noch sehr dankbar für den Kontext, in dem ich promoviert habe.

Das Thema Rechtsextremismus hat mich schon in meinem Heimatdorf, einem Ortsteil von Dillenburg, beschäftigt. Da gab es Ende der 1990er Jahre eine recht präsente, in Teilen sehr gewaltbereite rechte Jugendclique. Keine ganz harte Kameradschaftsszene, aber trotzdem mit einer hohen Affinität für Gewalt. Einige von den Jugendlichen waren auch sehr stark ideologisiert. Das Interessante waren zweierlei Befunde. Sie wurden zunehmend adressiert von organisierten Rechtsextremen von außerhalb, auch von der NPD damals. Und das zweite Problem war, dass viele der Jugendlichen aus demselben Ort kamen. Man kannte sich zum Teil von klein auf, da kam man mit moralischer Empörung alleine nicht weiter. Da fiel dann der Blick auf die möglicherweise fehlenden Angebote in der Jugendarbeit. 

Wir haben dann mit Unterstützung der Stadt und des Landkreises eine eigene offene Jugendarbeit aufgebaut. Ende der ’90er Jahre war diese Szene manifest, 2001 haben wir angefangen, 2002 haben wir den Jugendraum eröffnet. Und nicht die Jugendarbeit, sondern die Aktivitäten der rechtsextremen Jugendclique führte zu einer kleinen Anfrage im Hessischen Landtag. Das war aber eine harte Schule, weil wir bewusst diese Jugendlichen angesprochen haben, wohlwissend, dass das auch seine Grenzen hat. Uns ging es vor allem um die Jugendlichen, die als Mitläufer dabei waren und nicht um die Gefestigten, aber so sehr konnte man das dann im Jugendraum in einem Dörfchen auch nicht separieren. Das war also mein Einstieg in das Thema, später kamen dann das Studium und die Promotion.

Dr. Reiner Becker, Marburg

Das klingt so, als hätte es fast schon ein Recruiting-Team von den Rechten gegeben.

So war es auch. Da kam entweder der NPD-Funktionär oder einer aus der Kameradschaft mit einer Kiste Bier und hat die Jugendlichen dann z.B. zu Rechtsrock-Konzerten mitgenommen. Es geht um Provokation, es geht um Gemeinschaft, es geht um Action, Thrill, Event. Das hatte immer Erlebnis-Charakter und so sind sie dann in diese Ideologie reingerutscht. Alles Rekrutierungsversuche, die sehr analog zu dem sind, was heute in den Sozialen Medien stattfindet.

Würden Sie sagen, das läuft heute auch noch so mit dieser Jugendrekrutierung direkt vor Ort oder läuft das eher über soziale Medien?

Sowohl als auch. Das sind aber immer Momentaufnahmen, wenn man über die rechtsextreme Szene spricht, weil sich gerade schon wieder alles verändert.

Wenn man sich die rechtsextreme Szene in Hessen Anfang der 2000er Jahre vorstellt, sprechen wir von einer nicht unbedeutsamen rechtsextremen Kleinpartei, der NPD, die bei Kommunalwahlen auch in den 90er Jahren Ergebnisse über 20 % geholt hat. Das waren und sind teilweise bis heute hochaktive, hochengagierte, hochvernetzte Leute. Dann hatten wir sogenannte Kameradschaften. Das konnten 10, 20 Leute sein, das konnten gewaltorientierte bis hochideologisierte Gruppen sein, die lokal oder regional agieren und sehr stark miteinander vernetzt waren – in Hessen und bundesweit. Dann kamen irgendwann sogenannte Autonome Nationalisten, die schon mehr auf jugendlichen Lifestyle abgehoben haben. Musik, Klamotten, Symbole und so weiter waren wichtig. Inzwischen – das fängt jetzt auch in Hessen wieder an – kommen die Baseballschlägerjahre zurück. In Form von neuen Gruppen, die in Ostdeutschland entstanden sind, eher jugendzentriert, aber wieder so ein bisschen in dem Look, den man von damals kennt.

Traut man sich heute in der Szene mehr als noch vor 20 Jahren?

Na, sagen wir es mal so: Insgesamt ist die gesellschaftliche Akzeptanz für Positionen weit rechts außen sehr stark gewachsen, auch seit der Gründung der AfD. Sie hat viele Potenziale in Wählerstimmen binden können, von Menschen, die vorher gar nicht oder aber die großen Volksparteien gewählt haben. Sie bindet überproportional Menschen, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausstrahlen. Menschen, die eine hohe Zustimmung zu einzelnen rechtsextremen Ideologie-Elementen aufweisen: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus. Das heißt, wir haben es mit einer Gewöhnung, einer Normalisierung zu tun. Das merken wir an der Sprache, das merken wir an den politischen Diskursen. Und ich denke, es war eigentlich schon lange nicht mehr so einfach wie heute, rechtsextrem zu sein.

Welche Rolle spielen dabei unsere Medien? Das Thema hat sich ja durch zig Talkshows in die Wohnzimmer der Republik eingeschlichen.

Ja, das gehört zu einer Strategie der Normalisierung. Da gibt es verschiedene Facetten und die Teilnahme an Talkshows beispielsweise ist auch ein Ausdruck davon. Man könnte ein ganzes Interview dazu machen, wie solche Normalisierungsstrategien funktionieren. Nur mal ein Beispiel: die AfD hat es schlicht und ergreifend sehr gut verstanden, die sozialen Medien zu nutzen. Die Partei hat alles ausprobiert, sie findet die unterschiedlichsten Formen der Ansprache für unterschiedlichste Zielgruppen und das geht so weit, dass Bundestagsreden in einem bestimmten Stakkato gehalten werden, damit man die richtigen Schnipsel für TikTok bekommt. Dahinter steckt harte Arbeit.

Umso wichtiger ist dementsprechend Ihre Arbeit beim Demokratiezentrum. Können Sie uns beschreiben, womit Sie sich beschäftigen?

Unmittelbar nach meiner Promotion habe ich 2007 angefangen, das Beratungsnetzwerk Hessen mit aufzubauen. Unsere Geschäftsstelle ist seit 2011 hier in Marburg und unsere drei Beratungsangebote werden durch acht Beratungsteams hessenweit umgesetzt. Wir vernetzen in Hessen in unserem Beratungsnetzwerk im Moment 54 zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure, also eine große Bandbreite. Wir legen viel Wert auf das Thema Vernetzung. Unter unserem Dach ist auch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen, „RIAS Hessen“. Das ist eine Meldestelle für antisemitische Vorfälle, die es auch in zehn anderen Bundesländern gibt. Seit 2022 haben wir zudem einen eigenen Forschungs- und Weiterbildungsbereich auf den Weg gebracht. Bundesweit bieten wir den ersten berufsbegleitenden Masterstudiengang „Beratung im Kontext Rechtsextremismus“ an.

Trotz all der verschiedenen Anlaufstellen haben Sie eine ganze Menge zu tun. 2024 gab es bei Ihnen die Höchstzahl bei Beratungs- und Bildungsanfragen wegen Rechtsextremismus. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Es gibt konkrete Anlässe, die Menschen dazu bewegen, Beratung nachzufragen. Bis man selbst mit seinem Latein am Ende ist und Beratung sucht, ist meist schon viel passiert. Man hat schon einiges probiert, hat Erfahrungen gemacht und kommt dann an den Punkt, externe Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Die Beratung hat also einen konkreten Anlass, was bei Bildungsveranstaltungen nicht unbedingt so sein muss. Da geht es oft um ein reines Bildungsinteresse zu einem bestimmten Thema. Aber in der Tat, unsere Zahlen steigen kontinuierlich. 

Eine Beratung kann ein einstündiges Gespräch sein, kann sich aber auch über Monate hinziehen, je nach Komplexität. Wir können jetzt keine Korrelation zwischen dem Anstieg der Beratung und dem Elend der Welt herstellen, das wäre schwierig. Wir sehen aber natürlich an dem Anstieg der Beratungsfälle, dass Rechtsextremismus oder Rassismus nicht im luftleeren Raum passieren.

Ich sehe es aber nicht nur als einen Alarmismus, wenn die Beratungszahlen steigen. Vielmehr kann man sagen: Menschen nehmen bestimmte Fragestellungen ernst. Wir haben einen kontinuierlichen Anstieg von Anfragen, oft von Bildungseinrichtungen und Kitas. Da kommt es zwar zu Vorfällen, was auf der einen Seite schlimm ist, aber auf der anderen Seite gibt es dann auch Menschen, die etwas verändern wollen. Sie wollen sich anders aufstellen und dafür brauchen sie Unterstützung. Das heißt, jede Beratungsanfrage, die kommt, kann man zweideutig sehen. Zwar gibt es einen Vorfall, aber Menschen machen sich auch auf den Weg, etwas zu ändern. Also eigentlich ist jede Zahl ein Stück weit Hoffnung.

An wen richtet sich die Arbeit des Beratungsnetzwerks?

Wir haben drei Beratungsangebote. Wir haben „response“, eine Opfer- und Betroffenenberatung in Frankfurt, „OFEK“, eine Beratung für Menschen, die von Antisemitismus betroffen sind und dann noch die fünf Teams der Mobilen Beratung, die ein recht breites Spektrum hat. Da melden sich Schulen, Behörden, Bürgermeister*innen, Vereine, Verbände. Also ein sehr breites Spektrum von Menschen, die in ihrem Umfeld etwas wahrnehmen oder auch betroffen sind. Dazu noch die Distanzierungsberatung, die mit jungen Menschen arbeitet, die sich auf den Weg in den Rechtsextremismus gemacht haben. Denen bieten wir dann eine Hilfestellung, wie man diese Probleme auflösen kann.

Ihren Einsatz müsste man eigentlich auf Bundesebene ausweiten und die Politik mit einbeziehen, oder?

Wir können in unseren Beratungsprozessen nicht den Kampf gegen Demokratiefeindlichkeit führen. Und es ist natürlich frustrierend, wenn Diskurse gefahren werden, wie in den letzten Wochen des Wahlkampfes, die ja dermaßen auf einen Effekt bauten, jetzt doch selbst die entschlossene Kraft zu sein, um den Rechtspopulisten in den letzten Metern vor der Wahl das Wasser abzugraben. Und dann gar noch im Bundestag die berühmte Brandmauer niederzureißen. 

Das hat etwas mit einer Währung zu tun, die sehr zentral für Demokratie ist, und darauf kann man dann hinweisen: die zentrale Währung ist Vertrauen. Und gerade in Zeiten, wo nicht viel und intensiv gelesen wird, sondern man jeden Tag von seinem persönlichen Algorithmus mit dramatischen Headlines geweckt und ins Bett geschickt wird, ist das natürlich fatal.

Unser Problem und gleichzeitig auch unsere Chance ist der kleinräumige Ansatz. Wenn wir über Beratung sprechen, dann bezieht sich das immer auf einen konkreten sozialen Raum. Das kann ein Klassenzimmer sein oder die sozialen Medien. Beratung funktioniert im direkten Kontext, und in den gehen wir rein. Und darin liegt das Spannungsfeld: Was uns einerseits vor Herausforderungen stellt, ist zugleich auch unsere große Chance.

Bleiben wir mal beim Klassenzimmer als sozialen Raum. Welche Rolle spielt Schule für die Vermittlung demokratischer Werte und für Aufklärungsarbeit?

Schule ist in einer hoch pluralisierten, individualisierten Gesellschaft einer der letzten wenigen Orte, wo junge Menschen aus allen sozialen Schichten, jeden Tag, ob sie wollen oder nicht, zusammenkommen. Die Kinder und Jugendlichen gehen dabei nicht durch die Schulpforte und lassen ihre Welt draußen, sondern bringen sie mit. Da sind wir noch gar nicht bei Bildung, sondern eigentlich erst mal nur bei den Voraussetzungen für das Miteinander an Schulen. Das führt zum einen dazu, dass Schulen überadressiert sind an Erwartungen, die anderenorts nicht mehr geleistet werden können. Schulen sollen also Probleme lösen, weil es andere verbindende Orte nicht mehr gibt. Auf der anderen Seite erlebt man mancherorts eine Art institutionelle Vereinsamung von Lehrkräften an Schulen, ein Alleingelassensein mit Fragestellungen, die heftig geworden sind.

„Die AfD hat
die Schule als
Raum entdeckt,
der skandalisiert
werden kann …“

Das, was sich an den Wahlurnen manifestiert, das zeigt sich auch in den Klassenzimmern. Da ist Stress. Und daher kommen dann auch die Beratungsanfragen, denn es ist Stress für Lehrkräfte, mit bestimmten Positionen umzugehen. Die AfD hat die Schule als einen Raum entdeckt, der skandalisiert werden kann, indem man Lehrkräften fehlende Neutralität unterstellt, was absoluter Unsinn ist, aber zu einer enormen Unsicherheit führt. Das war aber immer noch nicht die Antwort auf Ihre Frage. Es macht es nur so schwer, über Schulen zu sagen, sie sind der Ort der Demokratiebildung. Ja, die Schule ist ein Ort mit den Voraussetzungen, um Partizipationserfahrungen zu ermöglichen. Ich glaube, es gehört aber auch politische Bildung im klassischen Sinne dazu. Es hilft wenig, wenn wir nur demokratiepädagogisch Partizipation ermöglichen, aber das Wissen darüber, wie das Ganze eigentlich funktioniert, das ersetzt das dann auch nicht. 

Wir müssen Voraussetzungen schaffen, damit Lehrkräfte nicht nur fachlich dazu in der Lage sind, sondern auch systemisch. Und dazu kommt, dass die ganzen anderen intermediären Instanzen innerhalb der Gesellschaft weg brechen. Kirchen, Vereine, Parteien, Verbände. Und das ist ein Problem, weil Menschen, aufgrund von Krisenerfahrungen, Deprivation, Ängsten und so weiter, nach Orientierung und Antworten suchen, die sie nicht finden. Wir sprechen dabei über Symptome, wir spüren, was alles passiert. Wir sprechen aber noch lange nicht über Ursachen. 

Wie kommen wir denn von dieser zersplitterten Gesellschaft und den Blasen, in denen wir leben, wieder zu einem Gemeinschaftsgefühl?

Man kann diese Gemeinschaften nicht vollständig idealisieren. Also die Welt, die dadurch klar und geordnet schien, die war ja teilweise fürchterlich spießig bis hin zu diskriminierend und vorurteilsbeladen.

Die Frage ist doch eher, was wir tun, wenn über diese Vereinzelung, Krisenerfahrungen und den Konsum sozialer Medien, eine Wahrnehmungsverengung und Orientierungslosigkeit entsteht.

Wie kann man Menschen erreichen, die sich orientierungslos und abgehängt fühlen, zum Beispiel im ländlichen Raum oder in prekären Lebenslagen?

Sie nennen den ländlichen Raum und prekäre Lebenslagen – damit haben Sie schon zwei wesentliche Faktoren. Also zum einen erleben wir eine Art von autoritärem Populismus, eine Aushöhlung von Demokratie. Und dies mit dem Versprechen „Für euch muss sich nichts ändern“ für eine Mittelschicht, die Angst hat abzudriften – und das zu Lasten von gesellschaftlich schwächeren Gruppen. Und da gibts dann die Feindbilder, die haben wir auch im Wahlkampf kennengelernt: „die Migranten“. Und dieses Thema hat die AfD auf die Spitze getrieben. Es gibt kaum ein Politikfeld bei der AfD, was nicht verschränkt wird mit der Migrationsfrage. Also ich weiß nicht, wie oft die Menschen quasi aus diesem Land rausgeschmissen werden müssten, um die politischen Versprechen der AfD in den unterschiedlichen Feldern zu finanzieren. Aber das ist egal, es funktioniert, denn sie brauchen dafür nur zwei Dinge. Sie brauchen die Vorurteile gegenüber Geflüchteten oder Fremden – das ist das Klavier. Und Sie brauchen einen Konzertsaal, denn das Klavier alleine bringt nichts. Sie brauchen den Saal mit der entsprechenden Stimmung, und die Stimmung heißt Angst. Dann funktioniert das Konzert. Menschen haben Angst vor Fremdem, aber auch vor dem eigenen sozialen Abstieg. Und beides ist noch gepaart mit wirklich sehr herausfordernden Krisen. Wie viele Menschen leben in prekären Verhältnissen in der Bundesrepublik? Das sind 17, 18 Prozent. Vielleicht bald ein paar Prozent mehr. Das ist bei weitem nicht die Mehrheit. Was wir uns aber leisten, ist ein stetiges Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, und die Verantwortung dafür wird nur externalisiert.

Das heißt, wenn die Leute sich gesehen und ernstgenommen fühlen, dann verringern wir diese Ohnmacht vielleicht zum Teil?

Das wäre eine Vorgehensweise. Wir brauchen einen stärkeren Austausch. Aktuell entwickeln wir ein Format im ländlichen Raum, sogenannte kommunale Dialogräume, mit genau dieser Idee. Wir möchten in Orte mit einem exorbitant hohen AfD-Wähleranteil gehen. Wir gehen davon aus, dass es sehr schwer werden wird, einen Stich zu machen. 

Wir gehen aber auch noch von einer weiteren Hypothese aus. Es fällt einiges auf, wenn man sich bestimmte Karten von Wahlergebnissen anschaut. Die habe ich sogar hier noch liegen, da kartografieren wir Unterschiede. Wenn man neben die hessischen Wahlergebnisse für die AfD zum Beispiel die Bevölkerungsentwicklung, Steuereinnahmekraft oder die nichtdeutsche Bevölkerung legt, erkennt man teilweise ein paar Muster. Es gibt ein paar Gemeinden, in denen die durchschnittlichen Wahlergebnisse der AfD durch ein einziges Dorf mit extremen Zahlen verzerrt wurden. Bei einigen wissen wir, dass es neben allen soziostrukturellen Sachen besondere eigene lokale Geschichten gibt. Es könnten Orte sein, wo es vielleicht einen heftigen Konflikt über eine Geflüchtetenunterkunft gegeben hat. Wenn wir diese Dinge identifizieren, dann haben wir auch einen Grund, mit den Leuten über konkrete Anlässe ins Gespräch zu kommen. Wir arbeiten dafür u.a. mit dem Verband der kommunalen Wahlbeamten in Hessen, das ist sozusagen die hessische Bürgermeistergewerkschaft. Dadurch haben wir nochmal einen anderen Zugang.

Was würden Sie jemandem raten, der im eigenen Umfeld das Gespräch sucht – trotz schwieriger Positionen?

Das hängt natürlich immer von der jeweils persönlichen Disposition ab. Da gibt es eine emotionale und eine rationale Ebene, würde ich sagen. Beides muss dabei berücksichtigt werden. Man muss sich überlegen, was das Ziel für dieses Gespräch ist. Es ist ja was anderes, wenn es um Freunde geht, als wenn Sie Lehrkraft an einer Schule sind und einen Austausch in Ihrem Klassenzimmer suchen. Das heißt, die Frage der Beziehung, in der man zu diesem Menschen steht, ist schon eine sehr entscheidende. Entsprechend gibt es Fragen des Umgangs, denn die sind im familiären oder freundschaftlichen Kontext anders. Manchmal ist es günstig, nicht darüber zu sprechen. 

Totschweigen, so tun als wäre nichts?

Ja, in bestimmten Situationen ist es vielleicht besser, nicht darüber zu sprechen. Und in anderen Situationen ergibt sich dann aber die Möglichkeit. Da ist dann wieder die Frage, mit welchem Ziel führe ich das Gespräch? Interessiert es mich, warum mein gegenüber so tickt? Oder ist es mir wichtig, meinem Freund gegenüber Position zu beziehen? Oder beides? Ich wette mit Ihnen, beides hat unterschiedliche Konsequenzen. Familie wird man nie los, und enge Freunde, schätze ich mal, nur einmal. Ich glaube, deswegen tun wir uns bei solchen Gesprächen auch so schwer, und das sollten wir uns auch zugestehen. Am Ende ist man vielleicht sogar so gut miteinander befreundet, dass man sich das genauso sagen kann, wie sehr man unter gewissen Einstellungen gerade leidet, aber trotzdem legt man vielleicht noch Wert auf eben diese Freundschaft.

Das ist ein guter Weg, ja. Ist unsere Form der Demokratie dabei eine Chance für uns? Wir verständigen uns ja über Konsens.

Demokratie ist immer auch verknüpft damit, Fragen stellen zu dürfen, und vielleicht erstmal nicht unbedingt eine Antwort zu bekommen. Also wenn man das jetzt mal so runterbricht auf diese Gesprächsebene, dann gibt es doch keinen besseren Rahmen, um über schwierige Themen zu sprechen, als in der Demokratie. Es gibt eben die Grundregel, dass Demokratie keine Religion ist, die alle Sinnfragen beantwortet, die manichäisch zwischen Gut und Böse unterscheidet. Da muss man wirklich aufpassen und da kann sich jeder an die eigene Nase fassen. Wenn man zu stark in dieses Gut und Böse und in das Moralisieren reinkommt und das als Grundbedingung für den demokratischen Diskurs sieht, dann wird es schwierig. Es geht um den Austausch, es geht um das Zuhören und das „erstmal Stehenlassen“. Also genau das, wie man vielleicht auch in einer Freundschaft miteinander umgeht und ein Gespräch führt.

Das ist ein gutes Schlusswort, danke Ihnen!


Interview:
Chrissy Kalla
Fotos:
Andrea Krupka

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