Eine Demokratie lebt vom Zusammengehörigkeitsgefühl. Damit sich niemand übersehen, abgehängt oder verlassen fühlt, brauchen wir mehr Wir. Und genau daran arbeitet die Stiftung Polytechnische Gesellschaft seit 20 Jahren in Frankfurt am Main – mit dem Fokus auf Frankfurt. Denn kaum etwas vermittelt mehr Wir als eine starke Stadtgemeinschaft.
Mit dem Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich sprechen wir über Herausforderungen, Chancen und Lösungen für besseren Zusammenhalt.
Was hat Sie dazu gebracht, die Leitung der Stiftung der Polytechnischen Gesellschaft zu übernehmen?
Es hat sehr viel damit zu tun, dass ich gebürtiger Frankfurter bin. Und es hat sehr viel damit zu tun, dass ich in meiner vorherigen Funktion Präsident der Hochschule für Angewandte Wissenschaften hier in Frankfurt war. Schon in dieser Funktion ging es mir immer darum, etwas für die Stadt, für das Umfeld, für eine bessere Gesellschaft zu tun. Ich wollte dazu beitragen, dass Studierende nicht nur – ich sage es mal ganz frech – Futter für den Arbeitsmarkt sind. So habe ich nie getickt, für mich war eher die Frage, wie kann die Institution in die Stadt hineinwirken, sie besser machen, wie kann eine Hochschule ein Ort des lebenslangen Lernens für alle werden?
In der Hochschule geht es um Wissenschaft, Technik, berufliche Bildung. Dann stand aber plötzlich die Option im Raum, in die Stiftung zu wechseln. Die Stiftung Polytechnische Gesellschaft ist viel breiter aufgestellt, hier geht es um viel mehr. Es geht um Kunst, Kultur, es geht um sozialen Zusammenhalt, es geht um Soziales, Karitatives, es geht um Demokratieförderung. Es geht darum, aus viel mehr Perspektiven in vielen Formen auf diese Stadt einwirken zu können, diese Stadt mitgestalten zu können. Es ist ein Traumjob!
Es gibt aber noch ein zweites Argument, das ich ganz wichtig finde, und das ist der alte Geist, aus dem wir stammen. Die Stiftung ist in diesem Jahr 20 Jahre alt geworden, aber die Stiftung hat ja auch eine Mutter und die ist viel, viel älter. Die Polytechnische Gesellschaft ist nämlich von 1816.
Frankfurt ist immer eine freie Stadt gewesen, Selbstverantwortung hat immer eine Rolle gespielt. Und plötzlich in Aussicht gestellt zu bekommen, einer Stiftung vorstehen zu dürfen, die eine der größten Stiftungen des Landes ist, aber nur auf Frankfurt fokussiert ist, und damit ein Stück weit das Thema Selbstverantwortung und Gestaltung dieser Stadt in Augenschein zu nehmen, das sind Punkte, die mich unglaublich motiviert haben.
Wie sehen die Möglichkeiten für Bildung in einer Polytechnischen Gesellschaft aus? Bildung und damit Demokratie stärken bedeutet ja Zukunftschancen für alle zu bieten, oder?
Genau. Für mich ist es eine große Erkenntnis, dass ich Bildung gar nicht mehr in Schubladen denke. Ich differenziere nicht zwischen Schulen, Universitäten und Weiterbildungen. Mittlerweile sehe ich ganz Frankfurt als eine große Bildungslandschaft mit völlig unterschiedlichen Institutionen, die alle einen Beitrag zur Bildung leisten.
Wenn man die Stadt als Bildungslandschaft versteht, dann ist Frankfurt selbst ein Ort, der lebenslanges Lernen bereithält. Eine Stadtbücherei ist genauso ein Bildungsort wie vielleicht ein Fußballverein, wie die Museen, wie die Universitäten, wie die Schulen, wie so viele Institutionen oder wie eben wir als Stiftung, die ja auch Stipendiatenprogramme hat, in denen wir auch Bildung, Qualifizierung, Persönlichkeitsentwicklung vermitteln. Und deswegen ist die gesamte Stadt Frankfurt für mich eine Bildungslandschaft.
Haben Sie die Möglichkeit, mit diesem Blick auf Frankfurt die Stadt zu verändern?
Ich bitte darum, dass Sie mich nicht als größenwahnsinnig betrachten. Aber weil Sie die Frage stellen, bekommen Sie eine ehrliche Antwort: Ja, mein Anspruch ist es, diese Stadt zu verändern – positiv zu verändern. Wir haben als Stiftung den Anspruch, einen positiven Unterschied in dieser Stadt zu machen, der erkennbar ist. So scharf hat man mich das noch nicht gefragt, aber in der Tat ist unser Anspruch, diese Stadt positiv zu verändern.
„Es ist unser
Anspruch,
diese Stadt
positiv zu
verändern.“
Es geht aber um noch mehr. Mir geht es auch um einen Wandel unserer Mentalität. Ich glaube, dass wir seit den letzten Jahren eine Attitüde haben, Verantwortung als erstes immer dem anderen zuzuschieben und das vielleicht auch gar nicht mehr merken. Es sind immer die anderen. Ja, es gibt Fälle, wo die Politik tatsächlich handeln muss. Aber an vielen Stellen würde ich fragen: Was ist das eigentlich für eine Selbstverständlichkeit, dass die anderen immer was tun müssen, um die Rahmenbedingungen meines Handelns zu verändern? Und an der Stelle geht es mir darum, dass wir einen Mentalitätswandel hinbekommen, als erstes nicht vor, sondern hinter der eigenen Haustür zu kehren und zu sagen, ich fange mal bei mir an und sehe die Chancen, etwas in meinem Umfeld zu verändern. Und das ist die große Aufgabe, die wir nicht nur in dieser Stadt, sondern auch in der Republik haben.

Welche Rolle spielt unsere Bürokratie bei dem Mentalitätswandel, den Sie ansprechen? Verantwortung zu übernehmen, geht doch oft auch mit kompliziertem Papierkram einher.
Stiftungen sind per se ja unabhängige und darum sehr flexible und agile Institutionen. Es gibt natürlich ein paar Dinge, wo man sich an Regeln halten muss, oder Abläufe, über die wir uns im Stiftungswesen Gedanken machen. Wie wir zum Beispiel für Dritte, die einen Antrag stellen, den bürokratischen Aufwand senken können. Wie man Stiftungsarbeit so gestalten kann, dass die anderen schneller partizipieren können.
Ein Bürokratieproblem sehe ich aber eher, wenn es darum geht, wie wir mit einer Stadt zusammenarbeiten können. Warum sind da eigentlich diese Dickichte, durch die man hindurch muss? Warum braucht es so unglaublich lange, um Entscheidungen zu treffen oder etwas an den Start zu bringen? Da würde ich sagen spielt Bürokratie in der Verwaltung und Politik eine große Rolle. Und dann wird man konfrontiert mit einem System, das teilweise noch nicht einmal mehr Antworten gibt und gar nicht durchblicken lässt, warum die Sachen so lange dauern. Das ist nicht mehr verständlich – und daran bricht unsere Demokratie zusammen. Wir haben kein Demokratieproblem, wir haben ein Organisationsproblem. Und da würde ich den Ansatzpunkt setzen.
Wenn Menschen nicht verstehen, was passiert, werden sie unzufrieden und vermuten, dass da was für sie nicht gut läuft, oder?
Der Mensch vermutet immer etwas, denn er ist ein sinnstiftendes Wesen. Es gibt eine wunderbare Arbeit zum Thema „Sensemaking“ von Karl Weick. Werfen Sie den Menschen in irgendeine soziale Situation rein, von der er keine Ahnung hat. Weil der Mensch nicht anders kann, versucht er sofort, sich selbst eine Orientierung zu schaffen und erkennt einen Sinn, den er einfach mitgebracht, den er konstruiert hat, der aber mit der Situation nichts zu tun hat.
Das Verständnis von Sinn und Zusammenhängen ist essenziell – auch für unsere Demokratie. Wenn Sie einem jungen Menschen in einem Satz erklären müssten, warum Demokratie so wichtig ist: Was würden Sie sagen?
Weil es um die Freiheit geht. Um die Freiheit, nicht nur alles denken und sagen zu können, sondern das auch als ein Gesprächsangebot an die Gesellschaft zu richten. Es geht nicht nur darum, eine Meinung in die Gesellschaft abzusetzen, sondern ein ernsthaftes Gesprächsangebot zu machen. Also einen Gedankengang als ein Angebot in die Gesellschaft zu bringen, auf den andere reagieren können, auch darüber streiten können, das ist Freiheit. Dass ich erstmal grundsätzlich nicht reglementiert werde, sondern frei sein kann, bis zu den Grenzen des anderen. Das ist der Punkt. Wir denken bei Freiheit immer an das Grenzenlose, aber grenzenlose Freiheit ist keine Freiheit. Ich muss sie vom Ende her denken und mir überlegen, bis wohin ich mich entfalten kann.
Wie wir leben, basiert auf der Grundlage unserer Demokratie, unserer Freiheit. Dass wir so leben können, wie wir leben, dass wir demonstrieren können, dass wir das sagen können, was wir sagen, all das ist das Ergebnis von Freiheit. Diese Freiheit zur Entfaltung braucht aber auch ein gemeinsames Fundament – und das ist die Bereitschaft, einander zuzuhören und Kompromisse einzugehen. Denn ohne den Willen, sich aufeinander zuzubewegen, gerät Demokratie ins Wanken. Gerade in komplexen Zusammenhängen, und da sprechen wir noch nicht einmal direkt über Demokratie, funktioniert das einfache „Ich will das aber so“ eben nicht. In solchen Situationen muss das Denken einsetzen. Unsere Gesellschaft ist so vielschichtig und komplex, dass es wichtig wäre, genau dieses Denken zu fördern – und auch die Akzeptanz dafür, dass Dinge nicht immer so laufen können, wie man sich das vielleicht wünscht.

Wie wichtig ist der respektvolle Umgang miteinander für eine funktionierende Demokratie – gerade in Zeiten, in denen die politische Sprache, z.B. in den USA, immer rauer wird?
Die Sprache ist das eine. Ich glaube, zur Demokratie gehört aber als Allererstes das Zuhören. Also zuhören zu können. Und dann auf das, was ich gehört habe, irgendwie reagieren zu können. Ich glaube, in den USA wird derzeit das ersetzt: durch einen sehr primitiven Marktmechanismus. Das sagt ja Trump wunderbar: Es geht nur um Deals. Es geht um einen radikalen Kapitalismus, der nichts mit der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. Man nimmt die Demokratie, die Kompetenz, all das weg und führt schlichtweg einen primitiven, einfachen Kapitalismus ein. Das ist es, was aktuell in den USA geschieht.
Brandgefährlich. Sind wir bei uns auf dem Weg dahin? Da bewegt sich ja hier in der politischen Landschaft auch etwas zum Schlechten.
Mein Job und das Verständnis der Stiftung ist es, Hoffnung und Bilder des Gelingens in diese Welt zu bringen. Und eine gute Portion Optimismus. Es geht darum, Zuversicht und realistischen Optimismus haben und zu verbreiten. Das ist unser Versuch eines Gegengewichts. Wenn Sie mich zum Beispiel als Soziologen ansprechen und als jemand, der sich wirklich für Gesellschaft interessiert, dann glaube ich, dass wir uns als Gesellschaft negativ entwickeln. Wenn wir uns die größere Zeitlinie anschauen, leben wir jetzt in einer Zeitlinie, wo das System zurückschlägt, wo imperialistische, machtorientierte, nicht-menschenfreundliche Neigungen gerade überhandnehmen. Wir sind so viele Jahre in einem System groß geworden, wo alles verfügbar ist. Alles. Und wir sind über Jahre parallel dazu in einer Effizienzsteigerungslogik gelaufen, die alles kürzer, klarer, einfacher will. Wir haben das auch in den Schulen gelernt: Brich das runter, fass das zusammen. Und jetzt können wir gar nicht mehr anders, als uns von sozialen Medien verführen zu lassen, weil das ein Marktmechanismus ist. Wir springen auf komplexitätsreduzierte Inhalte an, und die Konzentrationsfähigkeit leidet darunter. Und das führt dazu, dass eine gesamte Gesellschaft komplexitätsreduziert wird, die Probleme aber zunehmen. Es gibt eben doch eine Realität, auf die wir aber gar nicht mehr reagieren können. Wir haben die Kompetenz nicht mehr und ziehen uns lieber zurück in unsere Kammern.
Wie kann man Menschen wieder dazu bringen, sich mit komplexen Inhalten auseinanderzusetzen – und was hat das mit der Widerstandskraft unserer Demokratie zu tun?
Wo wir uns hin entwickeln, das sehen Sie ja. Schauen Sie sich die kürzlich vergangenen Bundestagswahlen an. Die AfD schießt hoch, die Linken schießen hoch. Jetzt will ich die beiden Parteien nicht in einen Topf werfen, denn die einen sind menschenverachtend, aber ich möchte sie beschreiben. Ich habe 20,8 % AfD mit einem unglaublichen Machtpotenzial in den sozialen Medien und mit Geld, und ich habe die Linken, die einen hervorragenden TikTok-Wahlkampf gemacht haben. Zusammengenommen bin ich dann bei ca. 30 % von komplexitätsreduzierenden Logiken. Und ich glaube, dass wir ein gesundes Mittel brauchen, mal drei Gänge zurückschalten und nicht aufspringen auf die Maximalforderung, denn die hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun. Diese Form des Maßhaltens haben wir verlernt, glaube ich. Wir springen auf die Extreme und glauben, dass man nur durch das Extreme die Welt heilen kann. Ein Irrglaube.
Wie schaffen wir es, in einer Welt voller kurzer, emotional aufgeladener Botschaften – die unsere menschlichen Reize wie Angst, Neid oder Wut triggern – ein Gegenangebot zu machen, das genauso emotional ansprechend ist, aber auf Dialog, Vielfalt und Nachdenken setzt?
Ich glaube, wir stehen vor der Situation, dass wir das Analoge wieder als sexy darstellen müssen. Wir müssen Menschen in Berührung und zurück in die Realität bringen. Viele junge Menschen informieren sich ausschließlich über TikTok. Das bekommen wir auch in unseren Projekten mit. Wir haben in Zusammenarbeit mit der FAZ in einem Projekt Schulklassen kennengelernt, die auf Verschwörungstheorien abgefahren sind. Die geglaubt haben, dass wir von der großen Macht manipuliert sind. Nachdem wir das Projekt gemacht haben, war jegliche Verschwörungstheorie weg. Was ist passiert? Die Jugendlichen haben sich gefühlt wie kleine Forscher. Die haben nicht nur die FAZ gelesen, sondern haben sich plötzlich gefragt, was passiert, wenn sie TikTok-Headlines in Google eingeben. Und damit war der Grundstein gelegt für Fakten-Checks und Medienkompetenz. Die haben im konkreten Arbeiten angefangen, die Welt zu ihrer zu machen.
Wir machen beispielsweise auch den „Deutschsommer“. Da bringen wir Kindern in den Sommerferien die deutsche Sprache bei, aber eben nicht wie in der Schule, sondern wir machen mit ihnen Theaterspiele, auch Körperübungen etc. Und wir gehen mit ihnen zum Beispiel in das Schullandheim Wegscheide in Bad Orb. Es gibt Kinder, die haben diesen Kontext von Wald, Natur, Wiese noch nie gehabt. Es gibt Familien, die waren noch nie im Museum oder in einem Konzerthaus, da sie gar nicht wissen, wie sie da rein sollen, ob das ein Angebot ist, was auch für sie da ist. Das gehört auch zur Geschichte von Frankfurt, es gibt Milieus oder Gesellschaftsschichten, in denen das normal ist. Was wir also schaffen müssen, sind Programme, wo wir Menschen zusammenbringen, also in die Berührung bringen. Es gibt nichts Schöneres als „das Echte, Analoge“. Und das ist das, was wir in allen Programmen versuchen. Wir müssen die analoge Welt wieder zur spannenden Welt machen. Spannender als das, was uns die sozialen Medien zu versprechen versuchen.
Als wir Kinder waren, gab es den Werkunterricht. Wir haben die Idee, das Werken, das Handwerk zurück in die Schule zu bringen, weil Kinder oft nicht mehr wissen, wie Sie mit den Händen arbeiten und was der Mensch als Mensch kann. Und das ist auch wieder ein Zurückbringen in das Analoge, in die echte Welt.

Wie schaffen wir es, Menschen wieder das Gefühl zu geben, dass ihre Fähigkeiten – ob an der Uni oder in der Werkstatt – gleichwertig gebraucht werden, damit mehr von ihnen Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen wollen?
Also, ich weiß nicht, ob ich die Frage tatsächlich global beantworten kann. Ich glaube, es braucht Rahmenbedingungen, es braucht wortwörtlich und bildlich gesprochen Räume. Räume, in denen Menschen tatsächlich aktiv werden können.
Wir als Stiftung machen seit vielen Jahren schon das Projekt Stadtteil-Botschafter. Dabei merken wir, dass wir erstmal einen aufsuchenden Charakter haben müssen, um junge Menschen zu erreichen. Man muss wissen, wo sich junge Menschen überhaupt aufhalten, um mit ihnen in den Dialog zu gehen und herauszufinden, was sie interessiert, bedrückt und antreibt. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, um Menschen zu fragen: „Wie siehst du denn deine Welt? Wo siehst du was Gutes, wo siehst du was Schlechtes?“. Also müssen wir Formen von Partizipation anbieten, um diese Fragen stellen zu können und Antworten zu bekommen. In dem Programm Stadtteil-Botschafter gehen wir so vor, dass wir die jungen Menschen dabei begleiten, die eigene Idee, die sie für ihren Stadtteil haben, tatsächlich umzusetzen. Wir bieten den Rahmen, unterstützen bei der Entwicklung, und wenn wir dann bei einer fertigen Planung angekommen sind, gibt es die Option, dass wir Geld zur Verfügung stellen, damit die Dinge noch weiter realisiert oder finanziert werden können. Das ist eine Form, wo eine Stiftung wie unsere tatsächlich einen Raum mit Optionen schafft, Menschen sucht und anspricht, sie sucht, um Träume zur Realität werden zu lassen. Ich glaube, das ist ein konkreter Tipp.
Es gibt aber noch eine zweite Antwort, die ich geben möchte. Ich glaube, dass wir es noch gar nicht geschafft haben, die großen Unternehmen als Multiplikatoren zu gewinnen. Die Firmen müssen verstehen, dass sie selbst, auch wenn sie weltwirtschaftlich unterwegs sind, Teil eines Ortes sind. Ob es eine Stadt ist oder ein Land – sie sind ein Teil der Gesellschaft. Und ich glaube, viele Unternehmen haben noch nicht verstanden, dass sie ein sehr attraktiver Arbeitgeber sein können, wenn sie sich auf die Fahne schreiben, dass sie zum Beispiel von ihren Mitarbeitenden erwarten, dass sie sich gesellschaftlich engagieren. Das könnte Teil einer Rekrutierungspolitik werden.
Oder gehen wir noch einen Schritt weiter: Die Unternehmen bieten eine Vier-Tage-Woche, die aber an einen fünften Tag gekoppelt ist, an dem sich alle gesellschaftlich engagieren müssen. Dadurch wird wieder anderes zum Thema: die Gesellschaft, der Zusammenhalt. Ich glaube, dass wir diese Diskussion ernsthaft führen müssen. Viele Menschen, die im Ehrenamt oder in der Zivilgesellschaft engagiert sind, beuten sich teilweise selbst aus. Auch dadurch, dass es keine wirklich gute Struktur gibt, die die Leute begleitet. Wir als Stiftung haben entschieden, dass wir ein offenes Fortbildungsprogramm anbieten und die Menschen fragen, was sie denn brauchen. Ob Kommunikationswissen, Coaching, Zeitmanagement, Ressourcenmanagement – wir bieten den Menschen in Frankfurt in einem offenen, kostenfreien Fortbildungsprogramm solche Themen an, um sich selbst stark zu machen.

Wie lässt sich Ihrer Meinung nach das Engagement im Ehrenamt und in der Zivilgesellschaft, wie Sie es in Ihrer Stiftung fördern, mit der Diskussion über Integration verbinden?
Zum Beispiel bei der Debatte darüber, wer nun Deutscher oder nicht Deutscher ist. Die Leute sagen: „Ich bin Frankfurter“ und dabei ist egal, wo sie herkommen. Fangen wir also die Stärkung des sozialen Zusammenhalts in der eigenen Stadt an, nicht auf Landesebene. Das kann jedes Dorf, jede Stadt für sich machen. Man beginnt einfach mit dem, was man im nahen Umfeld vorfindet. Wie sieht es in meiner Straße aus? Wie rede ich mit den Leuten? Das ist, glaube ich, eine große Chance. Wir sehen hier in Frankfurt, dass wir etwas verändern und bewegen können. Wir haben ein Gemeinschaftsgefühl und fühlen uns mit dieser Stadt verbunden. Und wenn alle Städte so agieren würden, würden wir wahrscheinlich merken: Es gibt einen guten Zusammenhalt.
Frankfurt ist eine Stadt, die gewisse Unterscheidungen einfach „wegbläst“. Weil wir als Frankfurterinnen und Frankfurter ein „Weltoffenheits-Gen“ in uns tragen.
„Frankfurt ist
die Stadt der
Möglichkeiten,
Frankfurt bringt
Potenziale
zum Blühen.“
Und ich glaube, dass unsere Stadt sich vor allem dadurch auszeichnet, nach oben streben zu wollen, Menschen in Frankfurt wollen ihre Potenziale ausschöpfen. Das finde ich interessant. Uns als Stiftung geht es auch darum, Menschen in den Himmel wachsen zu lassen. Frankfurt ist die Stadt der Möglichkeiten, Frankfurt bringt Potenziale zum Blühen. So funktioniert Frankfurt. Viele Leute kommen hier an und sagen „Hier geht’s!“. Und das ist eine schöne Story, finde ich. Manchmal muss man sich aber wieder vergegenwärtigen, was Frankfurt ist. Frankfurt mag Erfolg, würde ich sagen. Frankfurt ist keine Stadt, die sich erschreckt. Frankfurt mag wachsen, Frankfurt mag Potenziale heben. Frankfurt ist manchmal auch ein bisschen schmuddelig, aber Frankfurt bewegt. Und Frankfurt ist klein. Und Frankfurt ist schon verrückt. Frankfurt ist der Syrer, der Türke der dritten Generation und der Deutsche von nebenan – und sie treffen sich in gemeinsamen Räumen. Das ist Frankfurt.
Übrigens: Wissen Sie, was das Wort oder der Name Frank bedeutet, der in Frankfurt steckt? Das habe ich auch erst spät gelernt durch meinen eigenen Namen. Ich finde es interessant. Frank bedeutet tapfer und frei, und das trifft ja wohl auf Frankfurt zu. Wir haben die Freiheit, uns immer wieder erfinden zu können, das ist eine Riesenchance. Und das hat alles mit Demokratie zu tun.
Abgesehen von den Schulen – gibt es in Frankfurt noch Bereiche oder Initiativen, die Potenzial haben, aber noch nicht genug Beachtung finden?
Ja, das ist aber meine persönliche Perspektive. Ich glaube, wir haben ein Riesendefizit dadurch, dass wir nicht mit der Vielfalt und der Diversität arbeiten, die wir in Frankfurt haben. Wir sind eine „Arrival City“ und haben ja in Frankfurt das sogenannte „Welcome Center“ von Frau Bürgermeisterin Eskandari-Grünberg. Es ist toll, dass wir das haben, aber wir müssten dieses Thema nochmal ganz anders denken. Wir müssten jeden Menschen, der in Frankfurt ankommt – ob er nun aus Stuttgart, aus der Schweiz oder aus Syrien zu uns kommt – strukturiert aufnehmen. Dafür müssten wir uns die Frage stellen, was wir eigentlich von jemandem erwarten, der in diese Stadt kommt. Dazu könnte zum Beispiel zivilgesellschaftliches Engagement gehören. Wir fragen die Person zum Beispiel, was sie an der Gesellschaft interessiert. Ob es ein Feld gibt, in dem sie sich engagieren will? Dann kann man diesen Menschen in Verbindung bringen mit Stiftungen oder Vereinen in Frankfurt.
Worauf ich hinaus will, ist eine sehr einfache Potenzialanalyse. Das könnte ein kurzes Gespräch sein, mit jedem, der sich neu in Frankfurt anmeldet. Wer bist du? Was bringst du mit? Was interessiert dich? Hier gibt es Listen von Ehrenamts-organisationen, wir würden uns wünschen, dass du daran teilnimmst, dass du dich dort meldest.
Das wäre mein Wunsch: ein strukturiertes Einbringen und Verbinden der Menschen, die neu in die Stadt kommen.

Wenn wir über Integration sprechen und über die Herausforderungen, die dabei entstehen, denken Sie, dass große Städte wie Frankfurt besser geeignet sind, Menschen aufzunehmen und zu integrieren, als kleinere ländliche Gemeinden?
Ich glaube, wir haben noch keine richtigen Strukturen geschaffen, um Menschen wirklich in die Gesellschaft zu integrieren, da haben wir versagt. Es geht darum, sie in einen sozialen Kontext zu bringen, der sie fordert und prägt. Stattdessen haben wir sie einfach in Unterkünfte gesteckt und gesagt: „Du bist jetzt hier – es ist nicht unser Problem, wo genau du hinpasst.“ Bildlich und überspitzt gesprochen: Es ist problematisch, wenn Dörfer mit nur 400 Einwohnern plötzlich 400 Flüchtlinge aufnehmen, weil Integration in so einem Fall schlichtweg nicht funktioniert. Vielleicht haben wir zu viele Menschen auf einmal aufgenommen, ohne uns wirklich um die Integration zu kümmern. Es müsste darum gehen, diese Menschen aktiv zu unterstützen, ihnen die Frage zu stellen: „Wer bist du? Was kannst du? Was brauchst du? Wo willst du dich einbringen? Ich kümmere mich um dich. Lass uns gemeinsam jeden Mittwoch einen Kaffee trinken. Und das im Übrigen sind die Spielregeln, nach denen wir hier zusammen leben!“.
Weil eine solche menschenorientierte Geben- und Nehmen-Integrationsstruktur fehlt, können aus Unkenntnis, Unsicherheit und Angst gegenüber dem Fremden leicht Vorurteile entstehen.Das können wir uns nicht leisten.
Und was könnten wir konkret tun, um Menschen, die hier ankommen, das Gefühl zu geben, willkommen zu sein und aktiv Teil der Gesellschaft zu werden?
Wir können uns als Gesellschaft nicht mehr leisten, dass wir dieses ganze Potenzial von überwiegend jungen Menschen einfach verschießen. Wir brauchen so viele Talente, haben aber kein strukturiertes Verfahren, um zu verstehen, wer die Leute sind, wo ihre Potenziale liegen und wie wir sie gebrauchen können. Und das ist mir eine Herzensangelegenheit. Das wäre doch eine schöne Diskussion mit der (Stadt-)Regierung, die wir besprechen können. Dass wir eine Struktur aufbauen, um sowas finanzieren zu können.
Welche Schritte sollten wir Ihrer Meinung nach unternehmen, um nicht nur uns als Individuen, sondern auch das Vertrauen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in der Gesellschaft zu stärken?
Da sind wir wieder bei der Frage, was es für die Demokratie braucht. Ich würde sagen, auf andere zugehen und zuhören ist der erste Schritt. In unseren Demokratieprogrammen üben unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten demokratische Grundkompetenzen ein: Zuhören, Argumentieren, Konsensfindung. Und ich glaube, all die aktuellen Debatten, diese Verhärtungen, diese nationalstaatlichen Begegnungen, ich glaube, das hat ganz viel damit zu tun, dass wir nicht fähig sind, über eine Sache zu sprechen: Wir sind alle miteinander vereint in der Angst. Wir haben Angst, wir haben eine Angstgesellschaft. Und die Ausprägung der Angst, die schlägt halt in unterschiedliche Richtungen aus. Der eine hat Abstiegsängste, der andere hat Zukunftsängste und so weiter. Das ist das große Thema, was uns verbindet und worüber wir reden müssen. Und wenn wir das begreifen, arbeiten vielleicht wieder mehr Menschen zusammen an unserer Gesellschaft. Als Stiftung schaffen wir genau solche Gesprächsformate, um Menschen miteinander in Beziehung zu bringen.
Das ist doch ein schönes Schlusswort: Vielen Dank für Ihre Zeit und das spannende Gespräch!
Sehr gerne.
Mehr Informationen über die Arbeit der Stiftung gibt es auf der Website der Stiftung Polytechnische Gesellschaft