Verdammp lang her – Eine Zeitreise mit Wolfgang Niedecken

von | Juni 5, 2025

Wolfgang Niedecken auf der Bühne

Anfang der 80er-Jahre: Eine Kölner Rockband erobert Kölsch singend die Republik, spielt sich durch die Hallen und Festivals in die Herzen einer ganzen Generation, positioniert sich an der Spitze der Charts und beherrscht die Radiosender und Clubs.

Renommierte Musikkritiker, regionale Szene-Halbgötter und andere Sachverständige sind sich über die Gründe überraschend einig: Weil BAP halt klasse ist, weil es die richtige Zeit ist und weil es um wichtige Themen geht. 

Mehr als 40 Jahre später spielt die dritte Inkarnation der Band wieder ausverkaufte Tourneen durch ganz Deutschland, hat für die Festival-Saison 2025 schon einen vollen Terminkalender und plant die nächsten Produktionen – natürlich immer noch mit Wolfgang Niedecken als treibende Kraft, Frontmann und inzwischen auch wieder als Namensgeber.

Wie man mit 73 Jahren immer noch sich selbst und viele andere begeistern kann, was politische Meinungsbildung, Verantwortung für die Zukunft und das Hemd von Rory Gallagher damit zu tun haben, lest ihr im Interview. Viel Spaß!

„Frööchs mich, 
Wann ich zoletz e’ Bild jemohlt hann,
Ob mir e’ Leed tatsächlich jetz jenüsch,
Ob ich jetz do benn, wo ich hinjewollt hann, …“
Wolfgang Niedecken, 1981

„Ich habe doch meinen Traumberuf. 
Ich mach nur das, was ich gerne tue, 
mache nichts, wo ich keinen Bock drauf habe …“
Wolfgang Niedecken, 2024

Hallo Wolfgang, starten wir am Anfang, und der ist, im wahrsten Sinne des Wortes „Verdammp lang her“.
Damals hast du deinen Vater fragen lassen: „Ob mir e’ Leed tatsächlich jetz jenüsch, Ob ich jetz do benn, wo ich hinjewollt hann, …“ 
Wie siehst du diesen Satz heute? 

Das war ja ein nicht stattgefundenes Gespräch zwischen meinem Vater und mir. Also Bruchstücke, die irgendwann mal gesagt wurden. Die habe ich dann zusammengefügt, nachdem er gestorben war. Und daraus entstand dann dieses Gespräch.

Und das ist natürlich ein Satz, den mein Vater gesagt hat.

Mein Vater hat sich sehr schwer damit abgefunden, dass ich Malerei studiert habe. Er war eher so der Brot- und Buttermann und wollte, dass ich irgendwann mal mein eigenes Leben finanzieren konnte.

Ich habe damals halt von der Hand in den Mund gelebt, habe beim WDR als Aushilfsgrafiker gearbeitet und Solo-Gigs gemacht. Er war froh, dass ich die Musik endlich mal drangegeben hatte zu Beginn meines Kunststudiums. 

Und dann fange ich nach dem Zivildienst doch noch mal mit Musik an. Und mein Vater stand vollkommen entgeistert vor mir und sagt: Ist denn ein Lied tatsächlich jetzt genug? 

Ja, und das lässt natürlich Raum für Interpretation.

Du kannst ja auch sagen, ist ein Lied tatsächlich genug, wenn du eigentlich, jetzt mal ganz romantisch, auf die Barrikaden zu gehen hättest. Ist dann ein Lied genug?

Das ist das Schöne an dem Song, dass eigentlich jeder seine eigenen Erlebnisse hineinprojizieren kann. Du erzählst deine Geschichte, die Leute im Publikum verknüpfen sie mit ihren eigenen Erlebnissen und trotzdem bleibt es eine Story. Wie geht das? 

Am Anfang haben wir die Nummer einfach immer nur durchgenagelt. Wobei die letzte Strophe, wo ich bei ihm am Grab stehe, ist ja eigentlich eine sehr traurige Strophe. Da habe ich irgendwann gesagt, ich will das nicht durchnageln bis zum Schluss. Ich will da einen Break haben, wo wir nochmal runtergehen und ich diese Grabsituation so singen kann, dass es auch jeder versteht. 

Bis dahin sind ja schon viele Strophen passiert, bei denen jeder selber das reininterpretieren kann, was er will. Aber bei der Grabsituation gehört das Stück endgültig wieder mir. Und das hat auch für das Verständnis sehr geholfen. Weil dieser fröhliche Refrain dem ja gar nicht gerecht wird. Der ist ja auch nur durch Zufall entstanden. 

Ich weiß nicht, ob du die Geschichte kennst, wie das Arrangement entstanden ist?

Nur Gerüchte, also erzähl mal …

Also ich habe das Lied angeschleppt und bei den Proben zu dem Album ist es immer weiter nach hinten gerutscht.

Es hatte keinen Refrain und keine großartige Melodie. Es war einfach nur eine traurige Ballade. Und dann am letzten Tag, als wir eigentlich schon beim Abbauen waren, sagte ich: „Was machen wir denn jetzt mit dem Lied für meinen Vater?“

Und da sagte der Major: „Ja, was willst du denn damit machen? Willst du da etwa singen ,Verdamp lang her, verdamp lang‘? Willst du das allen Ernstes? Was soll das für ein Refrain sein? Oder womöglich so …“ – Und dann spielt er das Lick von „Under My Thumb“ im Stil von „Police“. Und alle guckten und sagten: „Klar, lass mal probieren.“ 

Und dann haben wir es probiert, haben es später auch aufgenommen, aber nicht als Single ausgekoppelt. 

Das ist ja wieder eine andere Story.

Ja, aber das ist auch eine schöne Geschichte. Danke an den Redakteur, der das dann doch gespielt hat.

Ja, das war der Wolfgang Neumann. Der hat das einfach gespielt, obwohl es keine Single war. Er hat es einfach selber ausgekoppelt, hat es laufen lassen und plötzlich haben alle das Ding laufen lassen. Bundesweit. Das war wie ein Lauffeuer. Unfassbar.

Es springt einen aber auch an. Das hat eine enorme Wirkung, wenn dieses Gitarrenriff losgeht.

Dieses Gitarrenriff ist sensationell. 
Wir nennen diese Art Lick die „Nähmaschine“, 
dieses „Taka Taka Taka“…

Die Nähmaschine kommt in mindestens drei BAP-Songs vor: In „Nemm mich mit“, „Zehnter Juni“ und in „Verdammp lang her“.

Ihr spielt das auf der „Zeitreise“, dem letzten Live-Album, ziemlich original wie früher. Es klingt aber runder, mitreißender, spielfreudiger.

Wir haben uns wirklich mit diesem Album große Mühe gegeben, uns so nah wie möglich am Original zu bewegen. Natürlich sind wir zwangsläufig über all die Jahre besser geworden, haben auch mittlerweile bessere Musiker. Das groovt mehr und ist in jeder Hinsicht anspruchsvoller. So hätten wir das früher gerne gespielt. 

Aber damals waren wir halt einfach eine Amateurband.

Das war aber auch ein Teil des Charmes von BAP, dass da eine Band von normalen Leuten kommt.

Also die Authentizität. Ja. Und wir hatten eine unglaubliche Dringlichkeit. Wenn wir irgendwo auf Festivals gespielt haben: Hinter uns brauchte keiner mehr zu spielen. Wir hatten bereits abgeräumt.

Und ihr habt die Themen der Zeit gehabt, genau die Sprache des Publikums gesprochen, speziell du als Frontmann.

Ich habe anscheinend diesen Instinkt, den Leuten die Band zu vermitteln. Ich habe keine Angst auf der Bühne. Ich sage immer, ich bin derjenige, der die Band durchs Nadelöhr bringt. Ich kann sowas.

Und Kölsch ist ja einer der sympathischsten Dialekte, die wir in Deutschland haben. Das hat ja auch geholfen.

Ja, Gott sei Dank. Erst mal ist Kölsch als Sprache auch wirklich sehr schön. Es hat ein bisschen was Holländisches, ein bisschen was Französisches, teilweise sogar ein bisschen was Englisches. Kölsch ist biegsam. Als Kölner singst du ja schon beim Sprechen. Eine Sprachmelodie ist immer erkennbar. 

Ihr seid Kölsch singend in Köln groß geworden. Eine bewusste Entscheidung?

Na ja, das ist halt meine Muttersprache. Bis ich in die Volksschule gekommen bin, hatte ich eher Schwierigkeiten mit dem Hochdeutsch. Ich wusste nicht bei jedem Wort, wie es auf Hochdeutsch heißt. 

Und bevor es uns gab, gab es ja schon lange die Bläck Fööss, die übrigens keine reine Karnevalsband sind. Die haben auch auf Volksfesten gespielt, haben Konzerte in Stadthallen gegeben. Die Bläck Fööss haben viele tolle Texte, sind aber volkstümlicher als wir. Wir waren die Rockband. Deshalb hat uns auch niemand verglichen. Kölsch singen war halt normal für mich. 

Wenn ich Londoner wäre, würde ich wahrscheinlich Cockney singen, habe ich immer gesagt.

Wenn du im Jahr 1981 eine Visitenkarte gehabt hättest: Was für eine Berufsbezeichnung hätte da draufgestanden?

Da hätte „Maler und Musiker“ gestanden. 

Wobei ich bei dem „Musiker“ eher immer so ein bisschen zucke, weil: ich bin ja kein ausgebildeter Musiker.

Und was würde da heute stehen?

Da würde wahrscheinlich noch „Autor“ dahinterstehen. Also „Musiker, Maler und Autor“. 

Wobei, genaugenommen bin ich
„Storyteller“ – also Geschichtenerzähler.

Als der Wim Wenders und ich den BAP-Film gemacht haben und wir damit auf Promotour waren, lag irgendwann an einer Hotelrezeption wieder so ein Zettel, wo man damals noch den Beruf eintragen musste. 

Der Wim guckt zu mir rüber und sagt mit seinem lakonischen Humor: „Schreib da Heimatdichter hin.“

Es heißt ja heute „Niedeckens BAP“. Das war ja auch mal anders.

Die Band hieß ganz am Anfang „BAP“. So habe ich meinen Vater genannt, weil mein großer Halb-bruder meinen Vater auch so genannt hat. Das Kölsche Wort für Vater – „Papp“ – aber mit einem weichen „B“, weil es in Unkel, wo mein Vater und er herkamen, halt „Bapp“ heißt. Und dann hatte ich irgendwann den Spitznamen „Bapp“ an der Backe, weil die Geschichten von der Sparsamkeit meines Vaters unfassbar komisch waren.

Beim ersten Auftritt, als die Band noch keinen Namen hatte, sagte unser damaliger Gitarrist – natürlich in Kölsch: „Schreib Bapp auf das Plakat, aber lass das zweite P weg, das sieht scheiße aus.“

Also hieß die Band „BAP“. 

Weil ich zur Zeit der ersten Platte aber als „Südstadt-Dylan“ bekannter als die Band war, wollte die Plattenfirma, dass es „Wolfgang Niedeckens BAP“ heißt. 

Das haben wir bei „Vun Drinne Noh Drusse“ dann aber wieder gekippt, weil wir kurze Bandnamen immer besser fanden. Und dass es dann jetzt wieder „Niedeckens BAP“ heißt, liegt daran, dass ich nicht garantieren kann, dass bei jeder Tournee die gleiche Band auf der Bühne steht. Das sind mittlerweile alles Profimusiker mit teilweise anderen Verpflichtungen.

Ihr wart ja damals eine ganz junge Band. War das ein anderes Arbeiten als jetzt?

Also das Arbeiten ganz am Anfang war ja mehr oder weniger wie mit einer Rasselbande: Das war Hobby. Wir haben es irgendwie hingekriegt und haben das auch auf die Bühne transportiert bekommen. Natürlich wurde es irgendwann zwangsläufig professioneller. 

Und natürlich kamen dann aber auch die verschiedenen Egos durch. Der eine will da lang, der andere will da lang. Der eine will kommerzieller, der andere will weniger kommerziell. Und das war dann teilweise so, dass auch schon mal ein Riss durch die Band ging.

Wollten die anderen in die Texte reinreden oder du in die Musik?

Nein, es ging um die Richtung. Wir hatten ab „Ahl Männer, aalglatt“ eigentlich 14 Jahre lang ein Tauziehen: die einen Richtung Radiopop und ich wollte weiter Kölschrock. Das war 14 Jahre Tauziehen, bis dann der Major ausgestiegen ist.

War das ein kreatives Tauziehen, das euch nach vorne gebracht hat?

Doch, das war es manchmal. Also so ein Album wie „Amerika“ finde ich ein ganz tolles Album. Das wäre ohne dieses Tauziehen gar nicht passiert. Dieses Spannungsverhältnis hat teilweise unglaubliche Kräfte freigesetzt.

Das hast du ja heute nicht mehr, da ist kein Spannungsverhältnis. Du bist ja der „Chef“. Wie gehst du damit um?

Also das mit dem „Chef“ ist so eine Sache. Ich bin ein totaler Teamplayer. Also ich höre gerne von allen die Ideen und die Vorschläge, wie man was machen könnte. 

Aber im Endeffekt muss einer entscheiden, und das bin dann ich. Ich würde von den Musikern nie ihr Optimum kriegen, wenn ich immer von vornherein sagen würde: „Nee, nee, lass das mal, ich habe das anders gedacht.“

Arbeitet ihr heute anders?

Die letzten beiden Alben sind ja von Ulle und Anne produziert worden. Das haben die wirklich sehr, sehr gut gemacht und die ganze Zusammenarbeit ist inzwischen sehr, sehr songdienlich geworden. 

Und was wir endlich auch neu haben, ist, dass ich direkt zum Grund-take singe. Das haben wir bei „Alles fließt“ zum ersten Mal gemacht.

Ist also wirklich zum Teil live eingespielt?

Ja, das ist alles live eingespielt und ich habe immer direkt darauf gesungen. Die Zeit ist vorbei, wo ich Zeile für Zeile gesungen habe. Furchtbar. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Dann weißt du nämlich nachher gar nicht mehr, was du da singst. Du könntest genauso gut was aus dem Telefonbuch singen. Jedes Gefühl geht dadurch verloren.

Gibt es in deiner Karriere einen herausragenden, einzigartigen Moment, den du gerne nochmal erleben würdest?

Ja, klar. Da gibt es natürlich viele Momente, aber der „eine“ Moment ist vielleicht der Loreley Rockpalast. Weil, das hatte ich nicht erwartet, was da passierte. Wir waren die zweite Band, die nachmittags gespielt hat. „Verdammp lang her“ lief gerade überall im Radio und wir haben uns selbst mit „Vun Drinne noh Drusse“ von Platz 1 gefegt. Wir hatten noch nicht mal großartig geprobt. Ich kam  einen Tag vorher aus dem Urlaub eingeflogen und bin am nächsten Tag wieder nach Lesbos abgedüst.

… wir haben die Stücke auf der Wandergitarre 
durchgespielt, sind dann trinken gegangen 
und am nächsten Tag zur Loreley gefahren. 
Und da war dann der Teufel los.

Hast du das Rockpalast-T-Shirt noch? Das hast du ja damals dauernd angehabt.

Das gibt’s noch. Das ist in einem Koffer, den ich damals immer mit auf Tour genommen hatte. Ein relativ kleiner Koffer. Ich hab das jeden Abend im Hotelzimmer unter dem Wasserhahn ausgewaschen, über die Heizung gehängt und am nächsten Tag wieder angezogen. 

Ich hatte damals zwei oder drei Jeanshemden, dann ein kariertes Westernhemd. Das war mein Rory-Gallagher-Hemd. Das habe ich aber dort extra nicht angezogen, weil, ich wollte auf keinen Fall irgendwie da als Klon rüberkommen.

Du beschreibst auch genau meine Garderobe aus der Zeit. Die karierten Rory-Hemden …

Kannst du dir vorstellen, wie es mir ging, als ich an dem Tag Rory Gallagher vorgestellt wurde? Ich war in seinem Wohnwagen, guck zu seiner Gitarre runter und er sagt: „Willst du mal drauf spielen?“ Und ich hab wirklich auf Rorys Gitarre gespielt.

Wow, Gänsehaut …

Und der war so nett, so unfassbar nett und kollegial. Der hatte überhaupt nichts zu verlieren, weil der spielte auf einem ganz anderen Level.

Irgendwann hatte der Peter Rüchel vom Rockpalast eine Idee: „Sollen wir am Schluss nicht eine Session machen?“ „Ja, ja, Session wäre super“, meinte Rory, „Was spielen wir denn?“ Ich sag: „Knockin’ on Heaven’s Door“. Eric Burden, David Lindley, Rory Gallagher und BAP spielen „Knockin’ on Heavens Door“. Das war absolut unfassbar. 

Ja, ich glaube, das ist so der Moment, nach dem du gefragt hast.

Sagenhaft. Das ist genau so ein Moment …

Oder mit Bruce Springsteen zusammen auf der Bühne zu stehen. Ein paar Mal haben wir das ja gemacht. Wenn ich den irgendwo besucht habe, kam am Schluss oft die Frage: „How about a little hungry heart tonight?“ Und dann heißt es: „Ja oder nein?“ Dann sagst du natürlich: „Ja“. 

Das hab ich auch in Hamburg im Volksparkstadion mit ihm zusammen gespielt. Wunderschön. Auch ein unglaublich netter Kollege. Ganz, ganz nahbar. Wunderbarer Mann.

Das freut mich, dass du das sagst. Schön zu erfahren, dass meine Helden nette Leute sind.

Alle meine Helden, die ich kennengelernt habe, von Ray Davis über Gallagher, Keith Richards, Bob Dylan. Auch Jagger: nett. Komplett nett. Kollegial. Also der Netteste war übrigens Keith.

Echt jetzt?

Keith war so ein Lieber. Ich hab ihn damals in der Kölner Sporthalle getroffen, da war er mit den „X-Pensive Winos“, mit seiner Solo-Band unterwegs. 

Und ich bin von Sebastian Krüger und Gottfried Helnwein, den beiden Malern, in die Garderobe mitgenommen worden, unmittelbar nach dem Auftritt. Da hieß es: „Komm mit nach hinten, wir stellen dich mal dem Keith vor.“ 

Ich wurde also als Musiker vorgestellt und dann kam erst mal – von Musiker zu Musiker – die Frage, wie es denn geklungen hätte. Ob alles im Mischungsverhältnis gut gewesen wäre. Es wäre so scheiß-heiß gewesen, die Scheinwerfer waren extrem niedrig, weil das Fernsehen dabei war. 

Mr. Rock’n’Roll will von mir wissen, ob alles okay gewesen ist oder nicht. Verrückt. Aber so kollegial und total nett.

Bist du tatsächlich, wie du beim ersten Stück singst, bevor du auf die Bühne gehst, immer noch nervös?

Also du meinst den Song „Koot vüür Aach“?

Genau, du singst, dass du da dieses Rumpeln im Bauch hast.

Ja, ja, das war am Anfang, aber später hat sich das dann gegeben. Aber was man auf jeden Fall braucht, ist diese kleine Adrenalinausschüttung, bevor man auf die Bühne geht.

Das ist eher so wie als Kind, wenn du genau weißt, am 24. Dezember abends wird die Bescherung sein. Du musst aber noch draußen bleiben, bis die Mama mit dem Glöckchen bimmelt und dann darfst du rein. 

Diese Aufregung muss sein. sonst werde ich furchtbar nervös. Weil ich dann denke: „Oh Gott, ich werde nicht drauf sein. Ich werde der langweiligste Typ in der Halle sein.“ Und dann werde ich tatsächlich nervös.

Also hast du das immer noch vor dem Konzert. Aber auch, wenn du im Fernsehen sitzt?

Nee, bei einem Interview über Sachen, wo ich hundertprozentig Bescheid weiß, kann mir keiner was.

Das bringt uns gleich zum nächsten Thema: Social Media und Medien generell. War das unausweichlich, dass wir da stehen, wo wir jetzt sind?

Also global war es wahrscheinlich unausweichlich. Stell dir mal vor, wir hätten in Deutschland nur Öffentlich-Rechtliche, was ich übrigens super finden würde. Aber wir leben ja nicht auf einer einsamen Insel, sondern mitten in Europa. Wenn irgendwo was passiert, steht das zwei Minuten später im Netz. Das Schlimme daran ist halt dieser Häppchen-Journalismus.

Ich kann mich noch gut an die erste Nachrichtensendung von RTL erinnern. Wir waren damals auf Tournee und im Hotel in München gab es auf einmal dieses Privatfernsehen RTL. RTL war für mich immer Radio Luxemburg – also Boulevard. Trotzdem eingeschaltet, mal gucken, was die für Nachrichten machen und da denke ich: Aha, das sind jetzt die Themen, über die dann gleich die Nachrichten kommen. Das waren aber schon die Nachrichten. Häppchen-Journalismus!

Das ist natürlich furchtbar, weil die Leute faul werden und sich mit den Häppchen abspeisen lassen und sich nicht mehr bemühen, ins Detail zu gehen. Nicht mehr wissen, worüber sie denn irgendwann abstimmen sollen, wenn sie zur Wahl gehen.

Denken vielleicht: Ach, der sieht aber nett aus, dann wählen wir den doch. Oder der erzählt mir das, was ich gerne hören will. Wählen wir den doch.

Man muss sich informieren.
Demokratie ist Arbeit. Ist richtig Arbeit!

Wenn ich nicht meine Nachrichtensendungen gehört habe, wenn ich nicht pro Woche meine zwei Wochenzeitungen richtig durchgeackert habe, wenn ich mich nicht informiert fühle, dann werde ich ganz, ganz unruhig. Ich muss das alles wissen.

Also ich mache mir seit jeher sehr viele Gedanken über das, was in der Welt passiert. Aber es passiert ja nicht nur Schlechtes. Der letzte Lichtblick war zum Beispiel Kamala Harris. Dass da anscheinend die Kurve gekriegt wird, das ist schon großartig.

Häppchenjournalismus öffnet Populisten Tür und Tor. Wenn keiner mehr in die Tiefe geht, können die einfach was behaupten, und keiner prüft es mehr nach, richtig?

Ja, genau. Der wichtigste Satz vom „Alles fließt“-Album ist nicht von mir, der ist von Jonathan Swift: „Lügen fliegen und die Wahrheit humpelt hinterher.“

Was würdest du an der Medienlandschaft heute ändern, wenn du könntest?

Ich würde gerne ändern, dass zur besten Sendezeit alles quotenabhängig ist. Wenn immer nur die Quote regiert, was willst du denn da noch machen? Dann geht nur populistisches oder angepasstes Zeug.

Ich würde zum Beispiel das Radioformat aufheben. Also das Radioformat, das besagt, der Song muss so und so kurz sein, es dürfen keine zu lauten Gitarren drin sein, das Stück muss sehr schnell auf einen Refrain rauslaufen und vor allem „uplifting“ sein.

Dazu würde ich mir mal eine öffentliche Debatte wünschen, was das Radioformat eigentlich anrichtet. Wieso sich alles gleich anhört. Diese Quotenabhängigkeit und das Radioformat sind eine gnadenlos zynische Bevormundung.

Stell dir mal vor, du würdest einem Maler vorschreiben, die Farbe so und so kommt nicht so besonders gut an, die musst du mal weglassen, sonst kriegst du keine Ausstellung.

Ich verstehe aber auch die Leute, die andersrum argumentieren, die sagen, bei den Privaten wird alles gebührenfrei über Werbung finanziert. Und mit denen müssen die Öffentlich-Rechtlichen konkurrieren. Also müssen auch sie sich nach dem Geschmack des Publikums richten.

Die Songs, die ihr auf der „Zeitreise“ spielt, behandeln ja meist brennende Themen von damals. Jetzt stellen wir 40 Jahre später fest: Die Probleme sind immer noch da. Müssen wir vielleicht anders rangehen als damals? Vielleicht zum Wählen aufrufen statt zum Demonstrieren?

Also zum Wählen motivieren muss man auf jeden Fall. Und wenn man sich den Mund fusselig redet: Die Menschen sollen demokratische Parteien wählen.

Man muss nicht mal eine Wahlempfehlung geben. Also, wenn es auf eine Wahlempfehlung rauslaufen würde, würde es schon schwieriger, weil ich mir immer wieder vergegenwärtigen muss, dass ich kein Politiker bin, sondern ein Künstler. Als Künstler kannst du das verarbeiten, was die Politik mit dir macht. Es geht – gerade – in der Musik um Gefühle. Manchmal würde ich mich schon gerne einmischen. Allerdings wenn ich dann als Gast in politischen Talkshows sitze, fühle ich mich oft unwohl, weil Profi-Politiker immer parteipolitisch denken, während es mir nur um die Lösung der Probleme und um Empathie geht.

Aha, das verstehe ich.

Weißt du, ich habe ja viel mit Heinrich Böll am Hut. Ich habe ihn privat gekannt und er war für mich immer auch eine Leitfigur. Heinrich Böll in seiner unaufgeregten Art, in seiner Bescheidenheit. Den mochte ich immer sehr, sehr gerne.

Und ich habe wirklich oft hin und her überlegt, wie Böll zu der Sache stehen würde. Er hat sich auch nie unterkriegen lassen und er hat ja auch bei der „Willy-wählen“-Kampagne mitgemacht.

Wenn Leute sich selbst Gedanken machen ist das 
viel wichtiger, als wenn ihnen jemand was vordenkt.

Auf der anderen Seite bist du als Entertainer auch nicht derjenige, der auf der Bühne steht und den Leuten die Politik erklären muss. Ich kann nur meinen eigenen Standpunkt darstellen.

Nehmen wir mal einen Song wie „Zehnter Juni“: Also „Plant mich bloß nit bei üch en …“. Die Idee, die „Zeitreise“ zu machen, hat sehr viel mit dem Song zu tun.

Warum? Das musst du erklären.

In dem Jahr, als diese große Demonstration vom 

10. Juni 1982 in Bonn auf den Rheinwiesen 40-jähriges Jubiläum hatte – wovon das Stück ja handelt – hat ein Frankfurter Journalist ein Interview mit mir über das Thema Nachrüstung und NATO-Doppelbeschluss gemacht. Und das Interview endete dann mit der Frage, ob ich dieses Stück denn jemals nochmal spielen würde.

Ich habe damals wörtlich gesagt, kommt drauf an, welche Konstellation das gerade ist und was gerade in der Welt passiert. Vielleicht, wenn es passt, würde ich die Nummer nochmal spielen.

Und dann kam Putin mit seiner Teilmobilmachung und ich habe in den Nachrichten gesehen, wie sich ganz viele russische junge Männer vom Acker gemacht haben. Noch schnell über die Grenze abgehauen sind, damit sie nicht eingezogen werden.

Wenn ich mich in einen von diesen Kerlen reinversetze, stimmt der Text zu 100 Prozent. „Plant mich bloß nit bei üch en …“

Das stimmt. So habe ich das noch gar nicht gesehen.

Und der zweite Faktor für die „Zeitreise“ war, dass wir das aktuelle Album erst ein Jahr später spielen konnten. Wegen Corona. Und dann hast du in der Zwischenzeit das Gefühl, scheiße, dieses tolle Album wird auf die Dauer schal. Du kannst es nicht live spielen, du kannst es nicht auf die Bühne bringen. Und natürlich ist Live-spielen immer das Entscheidende. Eine Tonaufzeichnung ist eigentlich nur wie ein Buch. Da kannst du es nochmal nachhören, beziehungsweise nochmal nachlesen. Aber das eigentliche Erlebnis ist bei Musik ja das Live-spielen. 

Und dann habe ich, als wir die „Alles fließt“-Tour gespielt haben, unverhältnismäßig viele neue Stücke ins Programm genommen. Da waren es bis zu zehn Songs, die neu waren. Und da musst du dann dazwischen Songs spielen, die auf jeden Fall jeder kennt. Sonst fangen die Leute an, sich zu langweilen. Ich weiß das ja selber. Wenn meine Helden auf einmal Stücke spielen, die alle vom neuen Album sind und ich das Album noch nicht so oft gehört habe wie die alten Alben, dann denke ich auch: Scheiße, jetzt könnte ja langsam mal irgendwie „Born to Run“ kommen oder „Tumbling Dice“.

Und deswegen habe ich unter anderem dann eben auch „Zehnter Juni“ reingesetzt, mit einer kurzen Ansage von dem, was ich eben erzählt habe, von den russischen Deserteuren. Und auf einmal passte das Stück wieder.

Und dann spielten wir auch „Wenn et Bedde sich lohne däät“. Das haben wir locker 35 Jahre nicht mehr gespielt. Und auf einmal stimmt dieses Stück wieder. „Mir sinn all zosamme om Kreuz-wääsch, etwa do, wo mer’t dritte Mohl fällt“.

Da war aber vorher ein unfassbarer Jubel und dann konntest du plötzlich eine Stecknadel fallen hören und die Leute haben diese Zeilen alle mitgesungen, und zwar sehr, sehr bewusst.

Hast du die „Zeitreise“ dann Anfang 2022 geplant, in der Corona-Zeit, oder wann entstand die Idee?

Die Idee von der „Zeitreise“ ist bei mir die ganze Zeit über gereift, während wir die „Alles fließt“-Tour gespielt haben.

Ich habe mich gefragt, wie es denn wäre, wenn wir mal alle Stücke der ersten beiden Doppelplatin-Alben in einem Konzert spielen würden? Aber das habe ich erstmal für mich behalten. Keiner aus der Band wusste davon und ausnahmsweise nicht mal meine Frau, mit der ich sonst alles bespreche.

Ich habe das erst nach dem letzten Konzert der Tour auf der Rückfahrt im Auto gesagt: „Was meinst du, wenn wir mal Folgendes machen würden?“

Und dann habe ich angefangen, nach dem Für und Wider zu gucken, wie das gehen würde, was man machen kann. Einer der ersten, mit dem ich geredet habe, war dann unser Tourveranstalter, und der fragte: „Ja, gibt es denn dazu auch einen Tonträger?“

Da hatte ich gar nicht dran gedacht, weil Tonträger gab es doch schon: die beiden Studio-Alben. Und dann kam die Idee: ein Live-Album im Sartory aufzunehmen. 

Erstmal hatten wir nur an zwei Tage gedacht, aber diese beiden Tage wurden innerhalb von zwei Stunden ausverkauft.

Wir haben noch zwei Tage drangehängt und auch die waren in der nächsten Stunde ausverkauft. Das war unfassbar. Dann kamen die Termine und es war super – ein unglaubliches Erlebnis. Das eigentlich Irre war, dieses ganze Fluidum zu spüren, das in der Halle passierte. Die Leute, die im Dezember im Sartory gestanden haben, waren, als diese Platten rausgekommen sind, zwischen 15 und 20 Jahre alt. Und auf einmal wurden sie alle wieder so jung. Das war ein unglaubliches Erlebnis.

Wir alle freuen uns total auf die Tour. Ich habe am Anfang auch nicht gewusst, ob die Band das gut finden würde. Hätte ja sein können, dass einer sagt: „Was willst du mit dem ganzen alten Scheiß.“ Nix, alle haben es super gefunden. Sogar der Jüngste der Band, der zu der Zeit noch gar nicht geboren war, der Trommler. Ich hab allen einen langen Aufsatz geschrieben, per E-Mail zugeschickt und vom Sönke kam nur eine ganz knappe Antwort: ein großes „J“ und drei große „A“ und ein Ausrufezeichen.

Da ist also kein Motivationsproblem? 

Nee, überhaupt nicht …

Ich habe gehört, ihr reist mit dem Nightliner? 

Ja, aber ich als Senior erlaube mir, mit dem PKW zu fahren. Ich brauche abends nach dem Konzert eine Badewanne, heißen Tee und ein vernünftiges Bett. Nightliner ist sehr nett, habe ich auch immer gerne gemacht, aber jetzt ist das Risiko auch wegen Corona einfach zu groß, denn mich kann keiner auf der Tour ersetzen. 

Ich habe es gottseidank noch nicht gehabt, hole mir nächste Woche die nächste Impfung ab und hoffe, dass ich da unbeschadet durchkomme. Alle anderen aus der Band haben bereits Corona gehabt, teilweise auch während der vorigen Tournee. Wir wissen also, was kommt, sind vorbereitet und schützen uns, so gut es eben geht.

Genau wie früher: Wolfgang nach dem Konzert im Auto, der Mond von Wanne-Eikel, aber dann ab ins Hotel, weil: 

„Man ist ja keine 70 mehr!“

Genau, der Spruch ist aber nicht von mir. Das hat unser ehemaliger Schlagzeuger Jürgen Zöller gesagt, mit dem ich immer noch eine wunderbare Freundschaft pflege. 

Welche Charaktereigenschaften muss man deiner Meinung nach unbedingt mit ins Alter nehmen?  

Die Gelassenheit. Gelassenheit lernt man irgendwann im Laufe des Lebens, dann bist du bei einigen Themen gelassener, aber es gibt immer noch genug Themen, wo ich direkt auf dem Tisch stehe. Aber Gelassenheit ist schon etwas sehr, sehr Wichtiges. 

Man kann vielleicht besser mit all der Erfahrung beurteilen, ob etwas wirklich wichtig ist oder vielleicht eher mal auf Wiedervorlage kommt.

Sonst nichts?

Und ansonsten habe ich doch meinen Traumberuf. Also wenn ich mir überlege, ich mache nur das, was ich gerne tue, warum soll ich mich in irgendeiner Form beklagen? Ich mache wirklich überhaupt keine Kompromisse, was meinen Beruf betrifft. Ich mache nichts, wozu ich keinen Bock habe.

Wenn du eine Sache in Deutschland ändern könntest, welche wäre das denn? Das kann jetzt alles Mögliche sein, zum Beispiel ein Tempolimit auf der Autobahn oder sowas?

Da hast du schon direkt ein Ding genannt, was ich gerne hätte. Und ich hätte auch gerne, was natürlich illusorisch ist, dass möglichst alle Güter endlich mal auf die Schiene kommen.

Viele Autobahnen müssten nicht dermaßen ausgebaut werden, wenn wir ein vernünftiges Schienennetz hätten und wenn die Güter hauptsächlich über die Schiene transportiert würden. Es ist unverständlich, wie viel Investitionen in den letzten 20 Jahren in Straße und nicht in Schiene gemacht wurden. 

Überhaupt, dass die Ökologie wieder mehr ins Bewusstsein der Leute kommt. Nach Corona,
Ukraine-Krieg und Gaza findet das Thema kaum noch statt. In den Wahlkämpfen ging es fast nur noch um die Asylpolitik, mit der die AfD die demokratischen Parteien vor sich hertreibt.

Die letzte Frage. Falls du mal deine Karriere beendest und sagst, das ist jetzt die letzte Tournee, das letzte Konzert: Was wäre das letzte Lied, das die Welt von Wolfgang Niedecken live hören soll? 

Ja gut, unser „Et letzte Leed“ wird es nicht sein. So ein Stück wie „Frankie un er“ vielleicht. Ist eins meiner absoluten Lieblingsstücke. Wenn wir jetzt gleich das Gespräch beendet haben, fallen mir noch 1000 andere ein, aber im Moment würde ich sagen „Frankie un er“, … oder womöglich „Noh all dänne Johre“.

Vielen Dank für das Gespräch.


Interview:
Frank Krupka
Fotos:
Andrea Krupka

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