Wer über die Zukunft der Mobilität nachdenkt, kommt am öffentlichen Personennahverkehr nicht vorbei.
Solange Scotty uns nicht einfach irgendwohin beamen kann, bleibt diese Form der Mobilität mit Abstand die wichtigste.
Jemand, der sein ganzes Leben der Organisation, Entwicklung und Optimierung des ÖPNV gewidmet hat, ist der Chef unseres heimischen Rhein-Main-Verkehrsverbundes RMV: Prof. Knut Ringat.
Was uns im Gespräch neben Fachkompetenz, Optimismus und Begeisterung am meisten beeindruckt hat:
Hier plant jemand immer noch mit vollem Einsatz langfristige Infrastrukturprojekte zur Zukunftssicherung, für die er bei Fertigstellung gar nicht mehr den Applaus bekommt, den er verdient hat, weil er bis dahin längst im Ruhestand auf der Zuschauertribüne Platz genommen haben wird.
Hier versteckt sich eine Botschaft an Politiker und CEOs, die nur in Jahresabschlüssen und Legislaturperioden denken. Bitte nachmachen!
Gut angekommen
Lieber Prof. Ringat, besten Dank für Ihre Zeit und natürlich für den RMV, den Sie uns hier hingestellt haben. Sie sind vor 17 Jahren ins Rhein-Main-Gebiet gekommen und leiten mit dem RMV den zweitgrößten Verkehrsverbund Deutschlands. Wir Hessen sind ziemlich zufrieden mit Ihnen, sind Sie auch glücklich mit uns?
Sehr glücklich. Ich komme aus Dresden, wohne jetzt in Offenbach, vorher zehn Jahre in Sachsenhausen. Ich gehe da auch immer noch einkaufen, kenne die Geschäfte und die kennen mich. Der Hesse an sich kommt mir mit seinem direkten, offenen, kräftigen Charakter sehr entgegen. Das liegt mir mehr. Und deswegen kriegt man mich, wenn ich dann mal beim RMV aufhöre, auch nicht weg. Dresden ist meine Heimat, und hier in Hessen bin ich zu Hause.
Okay, das ist ja schön.
Ich bin auch viel in Sachsen unterwegs, bin regelmäßig an der Uni, dort noch im Lehrbetrieb.
Das habe ich auch gelesen. Wie geht denn das räumlich und zeitlich?
Das geht. Ich bin in der Semesterzeit alle 14 Tage freitags, teilweise auch samstags, zu Block-Vorlesungen dann da. Da geht es Freitag früh nach Dresden und dann mache ich meine drei Doppelstunden, und Samstagabend geht es wieder zurück.
Ist das ein missionarischer Auftrag, sich den Nachwuchs ranzuziehen und anzugucken?
Das hat für mich mehrere Bestandteile. Jetzt, wo ich den Unibetrieb schon 35 Jahre lang mache, habe ich in der ganzen Welt ein wunderbares Netzwerk.
Wenn Leute sich fragen, wo hat er die Idee denn wieder her? Ich habe viele Studierende gehabt, die sind heute in London, in Peking, in Shanghai, in Tokio und sonst wo tätig. Entweder an Universitäten oder an irgendwelchen wichtigen Brennpunkten. Da kann man sich wunderbar austauschen, quer über den Erdball. Und so bin ich immer frisch im Stoff, bei dem, was gerade auf der Welt passiert.
„Und das zweite ist,
wenn ich mit den Studierenden
den ganzen Tag unterwegs bin,
bin ich jung.
Die sind alle 40, 45 Jahre
jünger als ich.“
Die Studierenden haben Spaß an mir, weil ich mit ihnen die theoretischen Dinge praktisch begleite. Dann wissen sie genau, wofür sie was lernen, wofür sie was brauchen.
Und ich lerne von den Studierenden, das wissen sie bloß nicht, das sage ich denen auch nicht: Ich lerne von denen mehr als sie von mir.
Weil ich natürlich meine aktuellen Themen einbringe, die ich gerade in meinem Aufsichtsrat habe, oder im Baugeschehen oder was weiß ich. Ich frage die Studierenden: „Was sagt ihr denn dazu?“ Und dann kommt manchmal: „Mensch, was machen Sie da für einen Quatsch?“
Und dann überlege ich, gehe wieder zurück und rede mit den Fachexperten bei mir im Haus drüber und dann machen wir es gegebenenfalls anders.
Der Studienbetrieb ist also keine Einbahnstraße für mich. Das macht mir unheimlich viel Laune und hält mich auch frisch.
Öffentlicher Nahverkehr entwickelt sich auf der ganzen Welt, da kann man überall viel lernen. Toll, wenn man die Kontakte hat. Aber Sie sehen ja auch Dinge aus erster Hand, oder?
Natürlich, wann immer es geht. Ich bin heute ein bisschen zu spät gekommen, weil ich mir gern mal frühmorgens Sachen anschaue. Ich bin Frühaufsteher, schon immer, als ehemaliger DDR-Bürger. Wir haben damals in der Verwaltung um 6.15 Uhr angefangen zu arbeiten. Und ich hatte drei Kinder, die ich vorher noch irgendwo hinbringen musste.
Heute früh war ich im Taunus, habe mir die RB16 angeguckt. Da sind zwei Busse nicht gefahren und deswegen kam ich zu spät.
Sie sind selber ÖPNV-Nutzer?
Ich bin bestimmt schon seit 20 Jahren multimodal unterwegs.
Ich benutze alle Verkehrsmittel, auch Dienstwagen, suche mir aber auch gezielt Strecken aus, um dann eben mit meinem Produkt auch zu fahren.
Im privaten Bereich bin ich grundsätzlich mit öffentlichem Nahverkehr unterwegs. Da habe ich Zeit, da drückt nichts. Ich nutze aber genauso auch mal einen Uber, fahre mit dem Rad. Aber was ich bisher noch nie gemacht habe, ist diese Elektro-Tretroller fahren.
Aber ansonsten nutze ich eigentlich alles, was es gibt.

„Und wissen Sie,
was ich auch viel mache?
Ich laufe viel.“
Super.
Ich kann gar nicht verstehen, wer gut zu Fuß ist, für zwei Kilometer zur Haltestelle zu gehen und auf den Bus zu warten. In der Zeit bin ich längst gelaufen.
Der gesunde Menschenverstand arbeitet gegen die Gewohnheit und Bequemlichkeit. Sie bauen ja gerade neue Angebote aus, um es den Leuten bequemer zu machen, ihre Reise multimodal zu planen.
Wir testen das jetzt gerade im Taunus. Das heißt Flux.
Wir haben jetzt gerade ein noch von Volker Wissing gefördertes Modellprojekt im Abschluss. Das nennt sich RMV All-In. Da haben wir sechs Teilprojekte, mit 80 Prozent Förderung vom Bund.Dinge, die wir ohnehin wollten, wie zum Beispiel eine Plattformentwicklung innerhalb unserer App, oder Sachen wie „Check-in, Be-out“, das auch in diesem Jahr losgehen wird.
Sachen, über die wir schon seit vielen, vielen Jahren sprechen und die gerade mit dem Deutschland-Ticket unheimlich viel Sinn machen.
Große Klasse, herzliches Dankeschön, Herr Wissing!
Und dazu gehört unter anderem auch dieses Projekt „Flux“, wo wir an 17 Mobilitätsstationen im Hochtaunuskreis jetzt Stück für Stück 58 E-Bikes, 8 E-Lastenräder und 8 E-Autos zur Anmietung hinstellen.
Die sind dort sicher untergebracht, und bei der Topografie des Taunus, wo es ja ein paar Berge gibt, macht das für mich Sinn.
Wenn Sie jetzt sagen, digital wird auch ausgebaut, gibt es dann demnächst eine universelle App für alle neuen RMV-Angebote?
Das läuft später alles über die RMV-App, jetzt geht es noch über die RMVplus-App. Das ist immer so der Einstieg, die Beta-Version.
Das passiert im Moment gerade, und am Ende landet es dann in der RMVgo-App, die jetzt auch erst mal gerade gut zwei Jahre alt ist. Die App ist relativ neu und liegt in den Bewertungen von fünf möglichen Sternen zwischen vier und fünf. Das hatte ich im ÖPNV noch nie.

„Ich bin generell dafür,
es den Menschen
so einfach wie
möglich zu machen.“
Ist aber auch wirklich gut. Die Zukunftsvision ist, dass man eine App nutzt und gar nicht mehr daran denken muss, dass man vielleicht den Scooter vorbestellen muss oder das Auto, sondern man plant eine Reise und die ist dann in dieser App abgebildet?
Ja, ganz genau. Im RMV machen wir das schon ziemlich gut vor. Das ist ein Innovationsstrang, den ich seit 15 Jahren im RMV verfolge. Im Hintergrund – oder fachlich dargestellt – eine sogenannte Ein-App-Strategie.
Die haben wir auch weitestgehend umgesetzt.
In Darmstadt, Wiesbaden und Mainz haben die Verkehrsunternehmen auch noch Apps, die basieren aber auf der Grundlage der Daten der RMV-App.
Ich bin generell ein Befürworter, es den Menschen so einfach wie möglich zu machen. Und das ist mit einer einzigen App definitiv der Fall.
Ich bin zum Zweiten ein Befürworter, die Dinge, die wir tun, möglichst effektiv zu machen. Nicht immer nur bei der Politik nach mehr Geld zu schreien, sondern selber auch zuzusehen, wie wir im System effektiver arbeiten können, Synergien schöpfen können.
Dadurch, dass wir im RMV diese Ein-App-Strategie haben, hat uns der Gutachter bei unserem ersten Nachhaltigkeitsbericht vor anderthalb Jahren bezeugt, dass wir im Jahr in der Größenordnung um die 60 bis 70 Millionen Euro einsparen, weil wir eben nur ein Hintergrundsystem haben.
Apps können sich ja viele draufsetzen, aber wenn man nur ein Hintergrundsystem hat, dann bezahlt man auch die Tools und Bestandteile dieses Hintergrundsystems nur jeweils einmal beim Kauf und auch beim Support.
Wenn Sie zum Beispiel heute ein Verkaufstool mit allem Drum und Dran für eine ÖPNV-App kaufen, mit der Sie dann mehrere hundert Millionen Euro im Jahr einnehmen, kostet das so um die drei Millionen Euro. Der Support kostet im Jahr ungefähr eine Million Euro.
Das leisten wir uns in Deutschland noch 154 Mal.
Wenn wir das jetzt einmal auf Deutschland hochrechnen, hätten wir sofort 600 bis 700 Millionen Euro, die wir in der Branche für das Deutschland-Ticket, für Infrastruktur, wofür auch immer, einsetzen könnten.
Die ganzen Verkehrsverbünde unter ein Dach zu bekommen wäre der Traum, gerade unter der Annahme, und wir gehen mal davon aus, dass das Deutschland-Ticket bleibt.
Das kostet ja Geld, oder?
Der Nahverkehr hat dadurch Geld verloren.
Kommt das wieder rein durch andere Stellen oder müssen Sie da kreativ werden?
Noch wird das Delta von Bund und Land ausgeglichen, aber alleine schon, da die Kosten für den Bus- und Bahnbetrieb steigen, muss man kreativ und effektiv sein. Ich habe gerade ein Beispiel genannt.
Wir können genauso effektiv sein, da kann ich andere Beispiele nennen. Es gibt zum Beispiel in den Buswerkstätten Deutschlands über 600 verschiedene Softwares. Das heißt, wenn ein Schlosser aus der Werkstatt in Mainz vielleicht nach Dresden wechselt, weil er sich familiär verändert, muss er erst mal ein halbes Jahr zur Schule gehen, damit er überhaupt Lohnabrechnungsstunden eingeben kann, geschweige denn irgendwelche Systeme an den Fahrzeugen bedienen kann. Dort haben wir Luft nach oben.
Wir haben auch viel Luft nach oben in der Manufakturproduktion unserer Fahrzeuge.
Die vielen Verbünde und die vielen Aufgabenträger bestellen alle ihren „eigenen“ Bus, beziehungsweise ihr Fahrzeug. Gehen Sie mal zu Alstom oder Siemens und schauen Sie sich an, wie dort eine Baureihe mit verschiedenen Designs und Ausstattungen in den Werkhallen nebeneinandersteht. Das macht es auf der einen Seite teuer und auf der anderen Seite auch ineffektiv für die Produktion der Fahrzeugindustrie, und die ist im Moment völlig überfordert. Wir haben nicht nur das Dilemma mit den Wasserstoffzügen, gucken Sie sich die fabrikneuen aber abgestellten T-Wagen bei der Verkehrsgesellschaft Frankfurt an. Das passiert vielen Herstellern. Die sind völlig überfordert, weil wir in unserer Branche viel zu vielfältig sind.
Wäre jetzt die Digitalisierung ein großer Helfer, wenn
man es noch konsequenter und kompromissloser machen würde als bis jetzt?
Genau, wir haben es ja probiert mit der Initiative Mobility Inside.
Ist das schon aufgegeben? Auf der Webseite steht, es läuft noch.
Warum die Webseite noch online ist, frage ich mich auch. Also Mobility Inside habe ich aufgegeben. Da war ich einer der wesentlichen Initiatoren, war froh, dass wir drei Handvoll Unternehmen und Verbünde der Branche gefunden haben, die für ungefähr 40 % des ÖPNV in Deutschland zuständig sind. Aber das große Ziel, ein einheitliches Hintergrundsystem zu etablieren, haben wir leider trotzdem nicht erreicht.
Das ist schade, denn man hat ja nichts zu verlieren als Verkehrsverbund, wenn man in Deutschland ein einziges System im Hintergrund hat, ganz im Gegenteil: Wir hätten unheimlich viele Synergien und Effizienzen und würden unheimlich viel Geld sparen.
Ich habe ja vorhin eine Größenordnung genannt, da kann man, wenn man „all in“ geht, eine gute Milliarde an dem sparen, was wir heute jedes Jahr im ÖPNV an Geld ausgeben.
Das ist ja der Vertrieb des ÖPNV. Je mehr digital durchgeführt wird, desto weniger Automaten brauche ich, desto weniger Papier muss ich ausdrucken und so weiter und so weiter.


Das gemeinsame Hintergrundsystem würde in Zukunft dafür sorgen, dass ich alle Reisen auch deutschlandweit komplett geplant kriege? Also zu Hause losfahre und am anderen Bahnhof auch tatsächlich das passende und gewünschte Verkehrsmittel – zum Beispiel den E-Roller – vorfinde? Auch wenn ich bei der Reise meinen Verbund verlasse? Hört sich toll an.
Genau so. Aber ich glaube, wir waren mit Mobility Inside vielleicht zwei Jahre zu früh.
Zwischendurch kamen die Krisen, von Corona bis Ukraine, und dann kam auch das Deutschland-Ticket. Eigentlich zwingt einen das Deutschland-Ticket, so zu denken. Aber es muss natürlich weitergehen: Wir werden das Ding nicht mehr „Mobility Inside“, sondern „Hessen first“ nennen und es erstmal für Hessen machen. Das ist auch schon ein großer Schritt. Das Know-how haben wir und Verbündete in Hessen auch. Im RMV sind über 160 Verkehrsunternehmen und 23 lokale Nahverkehrsorganisationen, mit uns zusammen also um die 200 Mandanten in einem einheitlichen Hintergrundsystem. Das funktioniert hervorragend. Und wir haben uns noch mit dem Nordhessischen Verkehrsverbund zusammengetan.
Wir haben uns also mit allen großen Verkehrsunternehmen der Region verbündet, von der Verkehrsgesellschaft Frankfurt bis zu den Kasseler Verkehrsbetrieben, von der Heag Mobilo in Darmstadt bis nach Offenbach und nach Mainz.
Es sind alle großen Verkehrsunternehmen dabei, die jetzt auch noch zum Teil eigene Hintergrundsysteme haben. Wir haben uns alle unter dem Titel „Hessen First“ zusammengefunden, um ein neues elektronisches Hintergrundsystem à la Mobility Inside für Hessen aufzubauen.
Unser bisheriges System muss sowieso erneuert werden und – ein ganz wichtiger Unterschied: das neue System wird uns gehören. Es wird nicht von einem Hersteller betrieben, der vielleicht in Zukunft von einem anderen Unternehmen übernommen wird oder der sich geschäftlich anders ausrichtet, wie es uns in der Vergangenheit passiert ist.
Im Übrigen hat es im vergangenen Jahr auch eine Diskussion in meinem Aufsichtsrat gegeben. Da gibt es ein Präsidium, das sind zehn aus dem 27-köpfigen Aufsichtsrat, die mit uns als Geschäftsführern zusammen die strategischen Arbeiten für den Aufsichtsrat vorbereiten.
Dort haben wir im Rheingau, wo wir zusammengesessen haben, die sogenannte „Rheingauer Erklärung“ geschrieben, in der unter anderem drinsteht, wir könnten uns auch „einen“ großen hessischen Verbund vorstellen.
Ob die Nordhessen und die Südhessen das jemals zusammenbringen? Ich weiß es nicht.
Ob die Politik dazu den Mut oder überhaupt den Willen hat? Ich weiß es nicht.
Aber auch wenn wir in Hessen da schon viel besser aufgestellt sind als die meisten Bundesländer Deutschlands, weil wir eben nur die zwei großen Verbünde haben, kann es dennoch Sinn machen.
Wir sind beide Aufgabenträger, halten Strukturen vor, um die Ausschreibungen durchzuführen. Da könnte man auch für Hessen durchaus noch effektiver sein.
Und ich bin auch einer, der jetzt beim Thema Bundestagswahl zur Frage „Was erwarte ich in den ersten 100 Tagen von einer neuen Regierung“ in ein solches 100-Tage-Papier sehr vehement mit hineingeschrieben hat: „Für Deutschland reichen auch 13 Aufgabenträger“.
Warum?
Wir haben in Deutschland im Moment 27 Aufgabenträger.
Das sind Länder oder kommunale oder Landeseinrichtungen, Landeseisenbahngesellschaften oder Verkehrsverbünde, Zweckverbände, die für die Bestellung von Eisenbahnleistungen im Rahmen des Regionalisierungsgesetzes Deutschlands tätig sind. Wie der RMV auch. Wir sind ja nicht nur Verbund, Fahrplan, Fahrschein, Fahrpreise, wir sind auch Besteller und Financier der Leistungen.
Die 27 sind auch wieder Königreiche, bestellen die eigenen Fahrzeuge, haben diese Strukturen redundant nebeneinander. Und wir haben 16 Bundesländer. Wenn sich die drei Stadtstaaten in ihre Bundesländer drumherum einordnen könnten, dann würden 13 ausreichen.
Was die Entwicklung der App betrifft, gibt es einen Zeitplan?
Ich baue darauf, dass wir Ende nächsten Jahres unsere App fertig haben und wir schon Ende diesen Jahres etwa 50 % der bisherigen Einnahmen aus dem System in dem neuen Hintergrundsystem haben.
Das ist ja keine neue App, sondern ein neues Hintergrundsystem, von dem der Kunde gar nichts mitkriegt, außer, dass wir in der digitalen Qualität der Verbraucherauskunft und im Ticketverkauf deutlich besser sein können, als wir es heute sind.
Kämpfen Sie bei der Digitalisierung gegen Regularien aus Brüssel? Oder leiden Sie unter der Bürokratie bei dieser ganzen digitalen Geschichte?
Da muss man Spielregeln einhalten und das machen wir. Entbürokratisierung würde aber auch unserer Branche sehr helfen. Das ist aber generell ein deutsches Problem. Wenn wir eine neue Struktur schaffen, schaffen wir die alte nicht ab. Wir schaffen dann noch eine dazu und die Bürokratie wird damit noch größer. Speziell im ÖPNV: Die Berichtspflichten beschäftigen bei uns im Hause 10 bis 20 Leute.
Warum steigen Ihrer Meinung nach nicht mehr Leute auf den ÖPNV um?
Wir in der Branche und die, die für die Branche zuständig sind – die Politik – sind selber daran schuld.
ÖPNV hat ja mehrere Komponenten.
ÖPNV hat in Städten angefangen, um die Menschen besser von A nach B zu bringen als mit individueller Mobilität, möglichst effektiv mit vielen Leuten auf einer Schiene oder in einem Bus. Dafür gab es dann eine Verantwortung von der städtischen Politik her.
Weil die Städte irgendwann mal gesagt haben: „Ich stelle mir das aber jetzt ganz anders vor: Die Linie muss doch so fahren oder jede Stunde fahren.“ Dann haben die Unternehmen, die das vorher auf eigene Rechnung gemacht haben, gesagt, okay, liebe Kommune, dann bezahl mir das, dann mache ich das auch so. So ist unser ÖPNV entstanden.
Dann kam die regionale Komponente dazu. In den 60er-, 70er-Jahren, als sich die Verkehrsverbünde gebildet haben. Der erste Verkehrsverbund überhaupt auf dieser Welt war der HVV in Hamburg 1965.
Dort haben die Unternehmen festgestellt, die Leute wollen anders fahren, als wir Verkehrsunternehmen das anbieten. Also haben die Verkehrsunternehmen selber Verbünde, erst mal Tarifverbünde, dann komplette Verbünde gebildet, wo Fahrplan, Fahrschein, Fahrpreis immer dahinter stand, was heute noch signifikant für einen Verbund ist.
Dann hat es wieder die gleiche Diskussion mit den Städten gegeben.
Und daraufhin sind die Städte mit in die Verbünde, die damals Unternehmensverbünde waren, eingestiegen.
Erst mal 50/50. So ging eigentlich die Zeit zwischen den 70er- und 90er-Jahren um.
In den 90er-Jahren kam dann das neue allgemeine Eisenbahngesetz, das sogenannte Regionalisierungsgesetz. Seitdem ist ÖPNV auf der Schiene Ländersache und das Geld, das der Bund vorher seinem Unternehmen Deutsche Bahn gegeben hat, hat er dann nach einem bestimmten Schlüssel auf die Länder verteilt. Damit sind die Länder heute für den ÖPNV zuständig.
Mit dem Deutschland-Ticket ist unter der Ägide Erreichung der Klimaziele, Umweltentwicklungen und so weiter, die Deutschlandkomponente dazugekommen.
Das will ich als Beispiel nennen, wie wir was Gutes machen, aber vergessen, wie man es richtig tut. Liebevoll formuliert.

„Ein Deutschlandticket braucht
einen einheitlichen Vertrieb.
Ein einheitliches Marketing.
Eine einheitliche App.Was haben wir?“
Wir haben nicht mal ein einheitliches Deutschland-Ticket, weil wir 154 Sonderlocken – so nenne ich das immer – alleine in den Tarifbestimmungen und in den Beförderungsbedingungen haben.
Ich habe jetzt die vergangenen Jahre immer am Schoße von Volker Wissing gehangen und habe ihm gesagt, wir brauchen ganz, ganz dringend ein einheitliches Vertriebssystem. Weil auch nur so habe ich ein einheitliches Kontrollsystem. Die Tickets können wir heute noch nicht durchgängig in Deutschland kontrollieren. Wir haben dadurch unheimlich viele Betrugsfälle.
Und die Bundesrepublik hat gesagt, ja, wir wollen das Deutschland-Ticket und ja, es soll 49 Euro, jetzt 58 Euro, kosten. Sie hat aber diese anderthalb Milliarden, die die Bundesrepublik dazugibt, nicht unter die Ägide gestellt. Das hätte sie im Regionalisierungsgesetz, wo sie uns das Geld gibt, machen können, und dabei sagen, dass es dafür einen durchgängigen digitalen Vertrieb und einen einheitlichen Tarifgeber geben muss.
So wäre ein Verbund Tarifgeber und für die Kultur und für die Kontrolle des ganzen Tickets zuständig.
Für das Deutschland-Ticket haben wir aber 70 Tarifgeber in Deutschland. Und jeder macht es halt anders.
Deswegen ist es kein Deutschland-Ticket, sondern ein RMV-Ticket oder ein VGB-Ticket, mit dem ich auch nach Deutschland fahren kann.
Ein signifikanter Unterschied.
Machen wir das besser und machen daraus ein Deutschland-Ticket, bewerben es einheitlich: Dann haben wir einen einheitlichen Vertrieb und eine einheitliche Kontrolle.
Und vor allem, ich muss den Menschen sagen, dass es dauerhaft ist. Verlässlich. Das ist das Wichtigste für die Menschen.
Guter Punkt.
Dann hat das Ticket eine Zukunft, dann können wir mit diesem Ticket 20 bis 25 % oder sogar mehr Neukunden erreichen. Jetzt haben wir gerade mal 8 % erreicht.
RMV oder deutschlandweit?
Deutschlandweit. 8 % mehr ÖPNV-Tickets dadurch. Wir brauchen aber, wenn ich mich mit dem Ticket auch gut finanzieren will, wenigstens 20 bis 25 % Neukunden. Dann rechnet sich das auch.
Aber das Wichtigste, ich will das nochmal herausstellen, sind die Kunden.
Wer zum Beispiel in Wetzlar wohnt und in Frankfurt arbeitet, der ist bei einem Deutschland-Ticket auch zu 58 Euro mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn er mit dem Auto zur Arbeit fährt. Aber wenn er alle zwei Monate in der Zeitung liest, dass es das Ticket nächstes Jahr vielleicht gar nicht mehr gibt, dann verkauft er sein Auto nicht, und wenn er es hat, fährt er auch damit.
Also diese Dauerhaftigkeit, diese Sicherheit, die man den Bürgern geben muss, ist wichtig. Und natürlich die Finanzierung, sodass die 160 Verkehrsunternehmen im RMV auch wissen, wenn ich das Deutschland-Ticket verkaufe, komme ich auch zu meinem Geld.
Wie steht es mit der Zufriedenheit der Kundinnen und Kunden mit dem RMV?
Ich bewundere und bin dankbar für die Treue der Bürgerinnen und Bürger unserer Region Frankfurt/Rhein-Main, obwohl wir im Moment gerade im schienengebundenen Personenverkehr nicht wirklich eine gute Qualität durchgängig anbieten können.
Weil viele Baustellen sind, weil es Personalmangel gibt, insbesondere im Bereich der Stellwerke.
Das Hauptstellwerk Frankfurt war teilweise im ersten Halbjahr im Schnitt nur zu 79 % besetzt. Dann wissen Sie, was alles nicht fahren kann. Wenn ein Zug mal nicht fährt, weil der Fahrer krank ist, fährt nur der Zug nicht. Wenn ein Stellwerk nicht besetzt ist, dann können Sie ganze Strecken, ganze Knoten nicht bedienen.
Wir haben im vergangenen Jahr über 100 Millionen Euro an Bestellungen von Eisenbahnleistungen nicht ausgeben können, weil Stellwerke nicht besetzt waren.
Sind Sie da machtlos?
Ganz machtlos sind wir nicht. Wir reden natürlich mit DB InfraGO. Wir haben hier vor Ort unheimlich gute Kontakte, sind mit allen Ebenen, vom Vorstand bis zu den Produktivebenen, unterwegs.
Da geht es um Personalmangel, aber auch um Infrastruktur. 50 % unserer Stellwerke sind älter als 50 Jahre, 10 % sogar älter als 100 Jahre. Da haben sie mechanische Stellwerke, Relais-Stellwerke und wir haben im Moment nur 40 % elektronische Stellwerke. Die jetzigen Kollegen bei der DB InfraGO sind da hoch engagiert, aber die Situation im RMV wird voraussichtlich erst im Jahr 2026 besser. Trotz dieser Bedingungen liegt unsere Pünktlichkeit zwischen 80 und 90 %. Aber im Fernverkehr liegt sie bei 60 %. Da Fernverkehr, Güterverkehr und ÖPNV auf der gleichen Schiene fahren, können wir nicht besser sein. Da ist das schon ein Wunder, dass wir bei über 80 % liegen.
„Trotz allem haben wir
bei den Fahrgastzahlen
einen Aufschwung: von
808 Millionen Fahrgästen
im Jahr 2023 auf
825 Millionen Fahrgäste
im Jahr 2024.
Das heißt ja, dass die Menschen die Vorteile des ÖPNV
erkennen und auch vermehrt nutzen.
Überall dort, wo wir etwas neu anbieten, kommen auch die Menschen. Wir hatten beispielsweise vor ungefähr zehn Jahren die Idee der X-Busse, der Expressbusse. Da waren wir die Ersten in der Bundesrepublik.
Weil wir gesagt haben, es gibt Tangentialverbindungen, da müssen die Leute erst hier hinfahren und fahren hier mit dem Zug wieder dahin zurück.
Wir haben in unserem Programm „Frankfurt RheinMain plus“ den Bau der Infrastruktur auch darauf ausgerichtet, dass zum Beispiel die Regionaltangente West kommt, dass es einen S-Bahn-Ring um Frankfurt insgesamt geben soll mit Regionaltangente Ost, Regionaltangente Süd und so weiter.
Und solange das noch nicht der Fall ist, haben wir gesagt, schicke ich aber schon mal Busse.
Mit einem höheren Qualitätsgrad als die sonstigen Busse in ihrer Ausstattung, mit WLAN und so weiter. Und diese Busse sind am Tag mit 1000 Leuten pro Richtung besetzt. Also da knallt es richtig. Ich bringe den Menschen ein neues Produkt und es wird sofort angenommen und genutzt.

Sie haben ja damit auch ein Problem gelöst.
Wird in diesem Zusammenhang auch zu autonomem Fahren geforscht?
Ja. Wir haben vorhin über Personalthemen gesprochen, die unsere Branche auch betreffen. Über 40 % des heutigen Fahrpersonals ist älter als 55. Das heißt, in den nächsten zehn Jahren verlieren wir die Hälfte der Menschen in den wohlverdienten Ruhestand.
Aber das ist ein Stückchen Zukunft und die müssen wir bewältigen.
Schauen wir heute mal in andere Länder der Welt, ob das in Kalifornien ist oder ob das in China ist. In China kann ich mir inzwischen über eine ÖPNV-App ein zweirädriges elektrisches Moped bestellen. Das kommt alleine dahin gefahren, wo ich bin. Ich setze mich drauf und sage meiner App, wo es mich hinfahren soll. Ich halte mich nur am Lenker fest und es fährt mich alleine dorthin, wo ich hinwill.
Das Thema der On-Demand-Verkehre, also Auf Abruf-Verkehre, ist für mich aber eher in Flächenlandkreisen relevant. In der Stadt kann man auch mal ein paar Meter laufen. Das ist sogar sehr gesund. Aber dort, wo es kaum ÖPNV gibt: Da arbeiten wir dran.
Wir haben im RMV, deswegen spreche ich so positiv über Herrn Wissing, ein großes On-Demand-Projekt für das Rhein-Main-Gebiet akquirieren können, das aus zehn Einzelprojekten besteht, die aber alle in einem Hintergrundsystem laufen.
Hier in Hofheim haben wir den Colibri, in Darmstadt ist es der HeinerLiner, in Frankfurt heißt er so wie ich: KNUT, im Landkreis Offenbach ist es der Hopper.
Das ist zehnmal lokal, aber an einem Hintergrundsystem, an einer RMV-App. Mit einem Hintergrundsystem für die gesamte Buchung, Finanzierung, Bezahlsystem, Tarif etc.
Und wir haben einmal 150 Fahrzeuge gekauft.
Das wird unheimlich gut angenommen, sodass wir jetzt von der Projektfinanzierung in die Regelfinanzierung übergegangen sind und funktionieren. Als einzige Projekte dieser Art in Deutschland.
Aber: Wenn ich diese Fahrzeuge jetzt autonom fahren lassen kann, dann spare ich natürlich enorm. Und dann kann ich meine Vision „24/7“ umsetzen – eine Flächenerschließung mit dem ÖPNV.
Und was das autonome Fahren betrifft, zumindest für Deutschland, hat der RMV die Nase ganz weit vorn.
Und wir haben das Projekt KIRA. Das betrifft den Einsatz von autonomen Fahrzeugen. Wir haben jetzt sechs solcher autonomen Fahrzeuge bereits da, die beginnen in den nächsten Wochen und werden jetzt gerade eingemessen.
Die fahren autonom mit Sicherheitsfahrer. Also hinter dem Lenkrad sitzt noch jemand und das Auto hat auch noch ein Lenkrad.
Ich gehe davon aus, dass wir ab 2030 ohne Sicherheitsfahrer fahren können.

Und jeder Kunde, der so ein System nutzt, ist ja ein Kunde für den ÖPNV und nutzt nicht mehr sein eigenes Auto. Ist das Ihre Vision für die nächsten 20 Jahre?
Das ist so.
Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch.
Gern geschehen.
Interview:
Frank Krupka
Fotos:
Andrea Krupka