Vorsicht an der Bahnsteigkante

Mai 26, 2024

Jeden Morgen überqueren Millionen Deutsche die Gemeindegrenzen, um an ihren Arbeitsplatz zu kommen: sie pendeln. Wir begleiten dabei Sarah in der S-Bahn.

Ein Beitrag von

subzeroes Magazin – Mai 2024

Mehr als 60 Prozent benutzen zum pendeln ein Auto, aber schon an zweiter Stelle steht der Öffentliche Personennahverkehr – kurz ÖPNV. Während die Nutzung der „Öffis“ in Metropolen als selbstverständlich gilt, wird die Situation auf dem Land gerne als unerträglich und das Auto dort als unersetzlich beschrieben. Aber ist das wirklich so, oder ist das nur eine beliebte Social-Media-Argumentationskeule? Wir wollten das genau wissen und haben nicht nur recherchiert, sondern uns ein persönliches Bild davon gemacht. Wie sieht Pendeln vom Land in die Stadt aus? Was gibt es zu beachten, wie fühlt es sich an, wie verlässlich ist so eine S-Bahn, macht es Spaß oder nervt es und – last but not least: Was kostet es?

Montagmorgen um 6:30 Uhr treffen wir unsere Pendlerin Sarah am S-Bahnhof in Rodgau-Dudenhofen. Eine typische hessische Gemeinde, südlich von Frankfurt gelegen, mit Autobahn- und S-Bahn-Anschluss.

Der Bahnhof in Dudenhofen liegt etwa in der Mitte der Stadt Rodgau, ist ungefähr 30 Kilometer vom Frankfurter Hauptbahnhof entfernt, der mit dem Auto je nach Verkehrslage in 30 Minuten erreichbar ist. Theoretisch. Die Strecke variiert zwischen 30 Kilometern Autobahn mit den kritischen Punkten „Offenbacher Kreuz“ und „Frankfurter Kreuz“ oder führt, etwas länger, mit einem höheren Anteil an Landstraße, durch Frankfurt-Sachsenhausen. Die dritte Alternative über die A661 und den Kaiserlei-Kreisel ist zeitlich eigentlich immer die schlechteste Wahl und nur für junge, nervenstarke Werbefachkräfte mit Büro an der Hanauer Landstraße zu empfehlen.

Mit der S-Bahn wird dieselbe Strecke ziemlich verlässlich in 46 Minuten zurückgelegt. Der Bahn ist es dabei egal, ob Rush-hour oder nicht. Lediglich „Gleisbauarbeiten“ oder „unvorhergesehene Ereignisse“ wirken hier als Spaßbremse. Der Nachteil zeigt sich an belebten Tagen oder auf beliebten, aber unterversorgten Strecken: Es kann gelegentlich eng werden. Dabei wird die Belastung individuell unterschiedlich wahrgenommen. Während der eine die vollbesetzte Bahn schon als beengt empfindet, lässt sich eine andere Person selbst bei einer Fahrt im Stehen aufgrund von Sitzplatzmangel nicht aus der Ruhe bringen. Apropos Ruhe: Während es deutschlandweit gültige, ungeschriebene Gesetze zu Blickkontakt in S-Bahnen gibt, die fast ausnahmslos befolgt werden (Nein. Niemals. Unter keinen Umständen. Nicht mal, wenn du Psychopath bist, danke!), ist die Geräuschkulisse ein Problem der Empfänger, nicht der Verursacher. Das bedeutet, dass sich die Empfänger mit geräuschisolierenden Kopfhörern schützen und nicht etwa die Verursacher auf Musik, Telefonate oder angeregte Diskussionen verzichten. Ganz im Gegensatz zum Beispiel zu Japan, wo es als höflich gilt, die Mitreisenden nicht mit Geräuschen zu belästigen und Bahnfahrten in fast gespenstischer Stille stattfinden. Muss man auch mögen.

Unser erster Kontakt mit der Welt der S-Bahn-Pendelnden fand an einem Montagmorgen statt, und entgegen den Vorurteilen herrschte am Bahnsteig weder Gedränge noch Hysterie. Friedlich, entspannt, eine sehr überschaubare Anzahl an Mitreisenden. Und eine genauso ruhige Sarah.

Hallo Sarah, guten Morgen. Guten Start in die Woche gehabt? Wie ist dein Gefühl?
Hallo, ganz gut, denke ich. Hat ja bis jetzt alles toll geklappt. Wir treffen uns ja nicht zufällig in aller Frühe hier am dunklen Bahnhof. Erzähl doch mal kurz, wer du bist, wo du herkommst und wo du hinmöchtest.
Gerne, ich bin Sarah, 34 Jahre jung, verheiratet und habe eine Tochter, die ich eben bei der Oma abgegeben habe. Normalerweise ist die im Kindergarten, aber der hat heute noch zu und ich bin auf dem Weg nach Frankfurt ins Büro, wo ich an zwei Tagen in der Woche arbeite.

Und du fährst immer mit der S-Bahn?
Eigentlich immer. Mit dem Auto ginge es zur Not zwar auch, aber das muss man in der Innenstadt dann auch noch irgendwo abstellen.

Das ist ein guter Punkt. Du bist hier mit dem Auto angekommen. Du wohnst also nicht in Bahnhofsnähe?
Nein, ich wohne ein Stück entfernt. Zu weit zum Fahrradfahren und ohne S-Bahn-Anschluss.

Also bringst du wahrscheinlich erst die Tochter mit dem Auto weg und fährst dann weiter zum Bahnhof?
Genau. Geht ganz easy.

Kein Berufsverkehr?
Nö, ich fahr nicht in Richtung Stadt, sondern quer. In der Regel ohne Stau oder viel Verkehr.

Und Parkplätze gibt es hier genug?
Schau dich um. Ganz schön viel Platz hier.

Stimmt, ist aber schon ab und zu mal gut gefüllt, der Parkplatz, oder?
Kann passieren, war aber bis jetzt noch nie ein Problem.

Wenn die alle hier zusätzlich mit ihren Autos in die Stadt kommen würden – das wäre gar nicht mehr zu bewältigen. Die Städter müssten S-Bahn-Pendelnde doch lieben.
Da muss ich mal jemand fragen, der sich damit auskennt (lacht). Ich denke aber schon, dass das eine Menge Verkehr spart.

Zusätzlich zu denen, die mit dem Auto kommen, sind da ja noch die ganzen Fußgänger und Radfahrer. Wird es eigentlich oft voll in der Bahn?
Klar, einsam ist es in der Bahn nicht.

Aber auch nicht überfüllt?
Hab ich noch nicht erlebt.

Müssen Leute stehen?
Also ich krieg normalerweise immer einen Sitzplatz. Klar, es stehen welche, aber meistens absichtlich. Die fahren dann 3, 4 Stationen und da reden wir über weniger als 10 Minuten Fahrtzeit.Dafür muss man es sich nicht gemütlich machen.

Wie lange fährst du?
Eine Dreiviertelstunde.

Mit wie viel Verspätung im Durchschnitt?
So gut wie nie. Immer pünktlich. Wenn mit S-Bahnen etwas schiefgeht, dann gleich richtig. Also spürbare Verspätungen im Berufsverkehr-Takt sind echt selten. Totalausfall kann passieren. Dann wird’s aber richtig ungemütlich.

Wie steht es mit der Sicherheit? Der Bahnhof hier ist ja schön hell …
Hier ist es prima. Es ist eher so, dass ich bestimmte Gegenden in Frankfurt meide und lieber eine Station weiter fahre, als durch eine bestimmte Gegend zu laufen. Ganz besonders im Winter im Dunkeln.

Das Problem hättest du ja auch, wenn du aus einem Frankfurter Parkhaus kommen würdest.
Stimmt.

Wie steht’s mit den Temperaturen? Hier auf dem Bahnsteig ist es eiskalt, da braucht man eine dicke Jacke, weil man ja doch ein bisschen warten muss. Schwitzt man dann in einer vollbesetzen Bahn?
Geht eigentlich. Im Moment ist halt Winter und das Problem habe ich beim Bäcker auch. Wenn ich da mit einer Nordpol-Expeditions-Daunenjacke in der Schlange stehe, wird mir auch ganz schön warm.

Stimmt, muss man auch überall mit klarkommen.
Mal ehrlich, die Horrormeldungen von Reisenden im IC ohne Klimaanlage haben mit Nahverkehr nicht viel zu tun.

Wenn du etwas verbessern könntest, was wäre dein größter Wunsch?
Ganz klar das Ausfall-Management. Es gibt zwar jetzt diese super App, wo man schnell Nachricht bekommt, wenn irgendwo was passiert ist, aber manchmal steht man dann doch mitten im Nirvana. Wenn sich dann jemand ganz schnell kümmert und man nicht eine Freundin anrufen muss, die einen abholt: Das wäre Next Level!

Klingt nachvollziehbar. Wir drücken die Daumen, dass das jemand liest und umsetzt. Da kommt übrigens deine Bahn. Vielen Dank für das Gespräch, einen schönen Tag noch und hoffentlich findest du einen Sitzplatz. Am besten in Fahrtrichtung.
Na ja, rückwärts aus dem Fenster schauen ist auch eine typische Nicht-Bahnfahrer-Phobie. Kann sein, dass das manche Leute komisch finden, ich genieße es. Tschüss dann …

Die Kosten-Nutzen-Rechnung

Natürlich haben wir uns die Mühe gemacht, auch mal Fakten gegen Gefühl zu stellen: Was kostet S-Bahn-Fahren auf der erwähnten Strecke im Vergleich zum Auto. Das Ergebnis wird niemand verblüffen, aber auch niemand überzeugen. Wir können nur dazu aufrufen, den Öffis mal eine Chance zu geben und selber zu beurteilen, wieviel entspannter ihr ankommt und wieviel gesünder ihr euch nach ein paar Wochen fühlt. Denn unabhängig vom Gewinn für die Umwelt: je mehr Schritte ihr pro Tag lauft, desto besser für eure Gesundheit. Da sind sich alle Ärzte und Fachleute einig.

Interview: Frank Krupka
Fotos: Andrea Krupka

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