Utrecht – Fahrradhauptstadt der Niederlande

von | Mai 30, 2025

Hallo Nils, schön dich hier bei der Dutch Cycling Embassy (DCE) in Utrecht zu treffen. Stelle dich unseren Lesern doch erstmal vor. Uns interessiert natürlich auch, wo du herkommst und wie du hier gelandet bist.

Ich komme gebürtig aus der Nähe von Düsseldorf, habe meinen Bachelor in Geografie in Bonn gemacht und im Anschluss ein Jahr in Indien für die GIZ gearbeitet.

GIZ?

Das ist die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. 

Ich war in Delhi, einer Stadt mit 30 Millionen Einwohnern. Das war anstrengend, aber auch spannend. Nach einem Jahr wollte ich weiterstudieren, meinen Master machen, und dann habe ich mir eine Stadt gesucht, die mir sympathisch war. Und so bin ich in Utrecht gelandet. Und ab dem ersten Tag war ich begeistert von der Infrastruktur für Radfahrer.

Ich habe mich immer mehr für Mobilität begeistert und für die Idee, diese Einstellung auch nach Deutschland zu tragen, und daher arbeite ich jetzt nach meinem Master seit zwei Jahren hier im Team bei der DCE und bearbeite Anfragen aus Deutschland. 

Nils Steinhäuser von der Dutch Cycling Company in Utrecht

Dann lass uns doch genau da ansetzen: Man sagt, Utrecht sei die Fahrradhauptstadt der Niederlande. Was sind die Gründe dafür und wie ist es dazu gekommen?

Es gibt sicher viele Gründe, aber einer der wichtigsten ist, dass es in den Niederlanden quasi Sub-Bürgermeister für verschiedene Bereiche gibt, also auch für Mobilität. Und da ist seit zehn Jahren Lot van Hooijdonk Beigeordnete für Mobilität und Energie & Klima der Stadt Utrecht („Wethouder mobiliteit en energie & klimaat voor de gemeente Utrecht“ – so der offizielle Titel). Also Bau- oder Mobilitätsbürgermeisterin. 

Und die hat das wirklich mit vorangetrieben und hat der Stadt auch ihren Stempel aufgedrückt mit ihren Ideen.

Utrecht war also nicht immer so fahrradfreundlich?

Utrecht war früher extrem autofreundlich. Bis in die 90er-Jahre war hier vor unserem Büro eine Stadtautobahn. Der Kanal hier vor dem Haus war eine Autobahn.

Utrecht: ehemalige Stadtautobahn die jetzt eine Gracht ist

Kann man kaum glauben. Wir gucken immer, wenn wir im Hotel sind – also etwas außerhalb – und wir zu einem Termin wollen, ob wir mit dem Auto schneller sind oder mit dem Fahrrad. Und hier in den Niederlanden sind wir eigentlich immer mit dem Fahrrad schneller. War auch heute so.

Aber genau das ist die Idee, zu sagen, die Stadt muss nicht immer mit dem Auto erreichbar sein, sondern man sagt, man kann von außen mit dem Auto an die Stadt ranfahren, aber dann in der Stadt ist das Auto kontraproduktiv für die Mobilität. Das funktioniert vom Platz her einfach nicht.

Schön ist, dass es hier nicht gegen das Auto geht und kein Zwang, sondern einfach praktischer ist. Was hier passiert ist, dass alle gleich sind, und es wird für alle gleich anstrengend. Niemand sagt, du darfst hier nicht mit dem Auto herfahren. Probiere es mal und dann machst du das nicht ein zweites Mal.

Genau, richtig. Das ist dann einfach der Lerneffekt.

Gilt diese Einstellung für die ganzen Niederlande, in jeder Gemeinde?

Viele haben über die letzten Jahrzehnte gelernt, dass es für die eigene Stadt vorteilhaft ist. Das ist aber auch bei jeder Stadt anders vorangeschritten. Utrecht war autofreundlich, es gab riesige Parkplätze in der Innenstadt.

Als ich hier ankam, dachte ich auch, Niederlande war schon immer Fahrradland. Die Niederländer haben das im Blut, die lieben das, das ist in deren DNA, hört man auch immer. So ist das aber nicht.

Fußgänger-Fahrradbrücke am Bahnhof Utrecht

Genau, aber wie sind die Niederlande zum Fahrradland geworden?

Vielleicht muss man sich da mal mit der Geschichte auseinandersetzen. Und das Spannende ist eben, was auch für Deutschland ermutigend ist, dass die Niederländer nicht schon immer Fahrradwege hatten. Wenn man sich Fotos aus Amsterdam oder auch aus Utrecht von vor ein paar Jahrzehnten anguckt, da sieht man keine Fahrradwege. Da sind Straßen.

Hier auf beiden Seiten der Bahnlinien hast du wirklich ein Riesennetz an großen Wegen, die in die Stadt reinführen.

In Amsterdam wurden auch teilweise Straßenzüge abgerissen, um Autobahnen zu bauen. Die Niederländer waren in der Nachkriegszeit extrem darauf aus, die Städte autogerecht zu gestalten. Weil man dachte, dass das die Zukunft ist, und man für große Mengen an Autos planen muss.

Das war die Idee und auch das städtebauliche Leitbild. Und das ist eben das Tolle, dass man jetzt sieht, wie es sich verändert hat. Man kann es also schaffen, von einer autogerechten Stadt zu einer mobilitätsgerechten Stadt zu kommen.

Die Niederlande – auch Utrecht –
sind nicht nur einfach fahrradfreundlich,
sondern mobilitätsfreundlich.

Das heißt, alles ist mit dem ÖPNV sehr gut zu erreichen, aber auch mit dem Auto im ländlichen Raum oder auch auf Autobahnen. Die Autobahnen, die Straßen generell, sind in einem super Zustand. Allerdings kommt man mit dem Auto nur sehr schwer in die Zentren der Städte hinein. Aber man ist sehr mobil und das auch mit allen Formen der Mobilität.

Radfahrer in der Nähe des Utrechter Bahnhofs

Die vorherrschende Meinung in vielen deutschen Städten ist, dass man Straßen meistens nicht breiter machen kann, aber auch nicht noch etwas von der Straße für Fahrradverkehr wegnehmen kann. Das ist eine Zwickmühle.

Da ist vielleicht der große Unterschied: Gerade wenn man wenig Platz hat, ist das doch eigentlich ein Argument für mehr Radverkehr, weil das Fahrrad weniger Platz braucht.

Das ist auch einer der wichtigsten Gründe, warum die Niederlande am Ende diesen Umschwung gemacht haben: weil sie einfach gemerkt haben, das klappt nicht mit dem Auto. Selbst wenn das Auto nachhaltig und eine tolle Art der Fortbewegung in der Stadt wäre: Rein vom Platz funktioniert es gar nicht, gerade in engen Städten. 

Man muss also aus der Erkenntnis heraus handeln, dass das Leben besser wird, und den Leuten klarmachen, was sie davon haben, und nicht einfach etwas verbieten?

Richtig. Das ist genau der Punkt.

Und wie habt ihr das geschafft?

Die Leute, die hier Fahrrad fahren, sehen sich nicht als Fahrradfahrer. Die Leute, die hier Fahrrad fahren, die nutzen das Fahrrad, um von A nach B zu kommen. Das ist einfach eine andere Herangehensweise ans Radfahren.

In Deutschland sagt man „Ich bin Radfahrer“. Helm auf, Jacke an, Ausrüstung an, neues, schickes Fahrrad, alles verkehrssicher und dann geht’s los. Das ist die deutsche Herangehensweise ans Fahrrad.

Die Niederländer sind dagegen sehr pragmatisch. Entweder ich steige auf mein Rad, weil es in dem Fall die schnellste Art der Fortbewegung ist, oder, wenn es weiter weg ist, nehme ich mein Auto. Wenn ich mit dem Zug besser hinkomme, fahre ich mit dem Zug – und alles im selben Outfit.

Man sucht sich ganz praktisch das Verkehrsmittel aus, das einem für die entsprechende Reise am besten passt.

Zum einen sind die Distanzen hier häufig nicht so groß, aber das Entscheidende ist, dass man hier eine gute und sichere Infrastruktur hat. Man muss sich nicht zwischen Autos irgendwie durchquetschen, sondern kommt wirklich angenehm irgendwo an. Das ist das eine. 

Das andere ist, dass man hier mit dem Auto nicht überall bequem hinkommt. Also man kommt überall hin mit dem Auto, aber umständlich, weil es wenig Durchgangsverkehr gibt. Der ist nämlich Gift für Städte. Das brauchen Städte nicht, dass die Leute durch die Stadt durchfahren, sondern man macht einfach einen Cut in der Straße und sagt, wenn du von der einen Seite kommst, fährst du bis hierhin, wenn du von der anderen Seite kommst, fährst du bis dahin. Und wenn du von einer Seite zum anderen Ende willst, musst du über die Ringstraße außen herum fahren.

Bahnhof Utrecht

Was macht ihr mit euren ganzen Pendlern? Gibt es da dieses Konzept, dass man das Auto vor der Stadt stehenlässt und mit dem ÖPNV reinfährt?

Genau, das wird auch ganz viel gemacht.

Diese multimodale Reise ist hier
eigentlich völlig normal.
Das heißt zum Beispiel,
dass 50 Prozent der Bahnfahrer
mit dem Fahrrad zum Bahnhof kommen.

Das ist eine extreme Zahl. Die Hälfte aller Menschen, die mit dem Zug fahren, sind mit dem Fahrrad zum Bahnhof gekommen. Das heißt, das Fahrrad ist eigentlich gar nicht das Entscheidende in den Niederlanden, sondern die Verknüpfung von Fahrrad und ÖPNV. Das ist am Ende wirklich der Gamechanger.

Das ist am Ende das, was so erfolgreich ist, weil das Fahrrad alleine natürlich seine Limits hat. Aber dadurch, dass man es an allen Bahnhöfen kostenlos sicher abstellen kann, ist es eine wichtige Verbindung zum ÖPNV.

Wie ist das gelöst, diese Sicherheit?

Ja, eigentlich verrückt, in Deutschland sind die Fahrräder teurer, werden aber schlechter geschützt, weil es schlechtere Abstellmöglichkeiten gibt. Hier sind die Fahrräder billiger, aber es gibt viel hochwertigere Abstellanlagen.

Es ist tatsächlich so, dass die Bahn erkannt hat, dass, wenn mehr Leute mit dem Fahrrad kommen, sie auch mehr Fahrgäste haben.

Das heißt, für die Bahn sind das mehr verkaufte Tickets, sie hat mehr Reisende, wenn sie dafür sorgt, dass an allen Bahnhöfen sichere Abstellanlagen sind. Das ist so erfolgreich, weil eben viele Menschen sich dazu entscheiden, überall aus der Stadt mit dem Fahrrad zum Bahnhof zu fahren und von dahin in andere Städte zu fahren.

Alle meine Kollegen kommen aus anderen Städten. Man ist innerhalb von einer halben bis dreiviertel Stunde in Amsterdam, in Den Haag, in Rotterdam, in Arnheim – in allen möglichen Städten. 

Aber mit der Bahn, nicht mit dem Auto, denn von hier nach Amsterdam kann es auch mal ganz schön lange dauern.

Richtig, aber mit dem Zug ist man dort in 25 Minuten und das wird so viel genutzt, aber dafür muss man natürlich zum Bahnhof kommen.

Für die Strecke der Reise – die erste Meile – nimmt man das private Rad. Man fährt zum Bahnhof, kann es kostenlos und sicher abstellen, fährt mit dem Zug weiter. Und für die letzte Meile ist man dann entweder zu Fuß unterwegs, falls die Arbeitsstelle in der Nähe ist, oder nochmal über ÖPNV, mit Straßenbahn oder Bus.

An allen Bahnhöfen gibt es aber auch diese OV-Bikes: öffentlichen Nahverkehrsräder. Die werden von der Bahn betrieben und man kann sie für 4,50 Euro pro Tag ausleihen. Das ist ein Leihradsystem, was es an allen Bahnhöfen gibt und was exakt dafür gemacht ist, diese letzte Meile zurückzulegen.

Das haben wir in Deutschland auch: Call-a-bike von der DB. Für Studenten bis zu einer Stunde kostenlos. 

Das ist, glaube ich, schon ein großer Problemlöser dafür, dass die Leute sagen, ich komme ja nicht zum Bahnhof außer mit dem Auto.

In Deutschland werden im Moment sehr viele und sehr teure Fahrräder und E-Bikes verkauft, aber hier sieht man – abgesehen von Sportlern auf Rennrädern – hauptsächlich normale Gebrauchsräder. Das hilft ja bei der Normalisierung des Fahrrads als Verkehrsmittel. Liegt das an der Mentalität? Kann man das lernen?

Man sagt, dass das auch ein bisschen dieser Calvinismus in den Niederlanden ist. Und dass man eher auf Understatement macht – und weil man auch mit einem einfachen Rad irgendwo hinkommt. Es ist wirklich auch wieder der Pragmatismus, zu sagen, das Rad funktioniert doch, dann kann ich damit zum Bahnhof fahren. 

Viele Niederländer haben aber mittlerweile auch E-Bikes oder teure Fahrräder als zweites Fahrrad für bestimmte Fälle in der Garage stehen.

Nochmal zurück zur sicheren Infrastruktur: Kannst du skizzieren, wie die Entwicklung war seit den 70er-Jahren?

Eine der großen Veränderungen kam, als viele Kinder in den 70er-Jahren im Straßenverkehr gestorben sind. Es gab große Demonstrationen von Eltern und in der Breite der Gesellschaft unter dem Motto „Stoppt den Kindermord“.

Und gleichzeitig kam die Ölkrise, und man hat gemerkt, wie abhängig man vom Öl ist.

Und damit standen plötzlich auch finanzielle Aspekte im Raum und es kam so langsam die Erkenntnis auf, dass es viel günstiger ist, Radinfrastruktur zu bauen, als Straßeninfrastruktur.

Aber nicht nur das: Durch die gesundheitlichen Vorteile spart der Staat nochmal Milliarden ein.

Hier ist Radfahren auch nicht politisiert, weil alle Politiker die Vorteile sehen und niemand dagegenredet.

Interessant, als Radfahrer ist man hier nicht automatisch Grüner?

Das Klimaargument wird hier nie genutzt, obwohl es stimmt, weil es einfach für die Motivation nicht an erster Stelle steht. Wichtig ist nur, was es dem Einzelnen für Vorteile bringt. Wenn man mit grünen Argumenten kommt, kann man die politisieren – Bequemlichkeit, Zeitvorteile, finanzielle Vorteile aber nicht. 

In Deutschland wird viel mit Klimaschutz argumentiert.

Dass Leute für das Klima Fahrrad fahren, für Klimaschutz, für die Umwelt, für Nachhaltigkeit: Das zieht bei den meisten Leuten nicht.

Die Leute, denen das Klima wichtig ist, die fahren sowieso Fahrrad. Das Argument bringt für den Radverkehr absolut nichts. Hier fährt niemand nur aufgrund des Klimas oder nur für die Umwelt Fahrrad, sondern weil es für ihn besser ist.

Davon abgesehen wird aber auch viel zu wenig über die viel besseren Argumente, nämlich dass es für einen selbst viel günstiger ist, gesprochen. Man braucht fast nichts zu bezahlen, um Fahrrad zu fahren. Außerdem ist man flexibel.

Und es ist nicht so, dass die Leute hier aufs Fahrrad gezwungen werden. Es wird ihnen die Möglichkeit gegeben, sich das Verkehrsmittel auszusuchen, das am praktischsten ist. Es wird nur dafür gesorgt, dass in Städten das Fahrrad das praktischste ist. Sie haben trotzdem die Wahl.

Ganz automatisch sucht man sich die schnellste, praktischste, angenehmste, bequemste, vielleicht auch günstigste Möglichkeit.

Fahrradparkhaus Utrecht
Fahrradparkhaus Utrecht – das größte der Welt

Wir schauen uns ja gleich das Fahrradparkhaus am Bahnhof an: Wie wichtig ist die Erkenntnis, dass man Fahrräder auch irgendwo sicher abstellen muss?

Genau. Das ist nämlich das andere. Alle reden immer von Fahrradinfrastruktur und wie schwierig das ist, aber die Fahrradabstellmöglichkeit, die ist genauso wichtig. Das ist genau wie bei Straßen.

Wenn du nur Straßen machst, keine Parkplätze, dann hast du von der Straße auch nichts, denn ein Auto muss immer zu einem Parkplatz. Das Ziel jeder Autofahrt ist immer ein Parkplatz.

Das Tolle am Fahrrad ist, dass 12 Fahrräder auf einen Autostellplatz passen. 

Viele Dank für das Gespräch und deine Zeit, Nils. Jetzt schauen wir uns mal den Bahnhof und die Fahrradparkhäuser an. 

Gerne. Los geht’s.


Interview:
Frank Krupka
Fotos:
Andrea Krupka

Weitere Informationen und Unterstützung beim Aufbau einer fahrradfreundlichen Infrastruktur findet ihr auf der Website der Dutch Cycling Embassy.

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