Bundesligazeiten Anfang der Neunziger – wer damals in Darmstadt oder Umgebung gelebt hat, hat mitgefiebert. Mit dem bodenständigen und sympathischen Verein aus der Mitte Darmstadts verbinden viele Heiner eine Jahrzehntelange Tradition.
Auch bei Tim Kuhl ist das so. Fußball und die Lilien waren schon immer ein wichtiger Teil seines Lebens. Er hat konsequent seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und kümmert sich heute im Nachwuchsleistungszentrum des SV Darmstadt 98 um die potenziellen Stars von morgen. Wir durften ihn interviewen und mit ihm ein wenig hinter die Kulissen schauen.

Hallo Tim, fangen wir mal ganz von vorne an: Wie kamst du zu dem Job?
Ich spiele schon mein Leben lang Fußball, ich würde sagen, seit ich ca. sechs Jahre alt bin. Ich bin meinem Heimatverein in Ober-Ramstadt bis heute treu geblieben, was das Kicken angeht. Nach dem Abitur habe ich in Darmstadt Sport studiert und mich während des Studiums für ein Praktikum bei den Lilien beworben und bin genommen worden. Damals gab es nur eine Handvoll Mitarbeiter in der Geschäftstelle.
Seit wann arbeitest du beim SV98?
Das Praktikum war in der Saison 2010/2011, damals noch in der Regionalliga Süd. Danach habe ich parallel zum Studium weiter bei den Lilien in der Fußballschule gejobbt und hatte dann die Chance, nach dem Studium direkt als Vollzeitmitarbeiter einzusteigen. Das war in der Saison 2014/2015, als die Lilien wieder in die 2. Liga aufgestiegen waren. Also habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht und bin bis heute sehr zufrieden damit.
Wie motivierst du dich für die Arbeit?
Eigentlich muss ich mich nicht sonderlich motivieren. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht und habe, seit ich hier bin, immer Spaß an der Arbeit. Klar, es gibt immer viel zu tun, aber das passt. Es ist auf jeden Fall gut, so wie es ist.
Seit wann gibt es das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des SV98?
Das gibt es seit dem Aufstieg in die 2. Liga 2014.
Für Vereine ab der 2. Liga ist das Betreiben eines NLZs Lizenzbedingung und hier gibt es von der DFL (Deutsche Fußball Liga) verschiedenste Kriterien zu erfüllen. Wir sind seit 2016 hier am Standort, dem Gelände Ziegelbusch, davor waren wir direkt am Stadion. Aber mit dem Aufstieg in die 2. Liga wurde ein anderer Ort benötigt und wir wurden hier untergebracht.
Wir konnten hier auf dem ehemaligen TG75-Gelände die Flächen nutzen und die Plätze zu Kunstrasenplätzen umbauen und haben hier gute Möglichkeiten, die Kinder und Jugendlichen zu trainieren. Die Plätze werden jeden Tag von 15 Uhr bis 21 Uhr voll genutzt und in den Ferien auch schon morgens ab neun Uhr, dann für den ganzen Tag.
Wie viele Kinder spielen hier Fußball?
Wir starten hier mit 9 Mannschaften. Beginnend mit der U10, das sind dann die Kleinsten mit teilweise achtjährigen, eher neunjährigen Jungen. Das geht dann hoch bis zur U21, die wir in diesem Sommer wieder eingeführt haben, um unseren ältesten Spielern eine längere Förderung zu ermöglichen.
Darüber hinaus gibt es bei uns in der sogenannten Fußballschule zwei Möglichkeiten für die Kinder zu trainieren.
Zum einen sind das unsere Merck-Lilien-Fußballcamps. Da bieten wir in jeder Hessischen Ferienwoche ein Fußballcamp an für jeden, der spielen möchte. Natürlich ist die Teilnehmerzahl begrenzt. Da können Kinder aus anderen Vereinen kommen, aber auch Kinder, die Fußball generell ausprobieren möchten. Und dann haben wir noch unser Software-AG-Lilien-Fördertraining, bei dem die Kinder wöchentlich in kleinen Trainingsgruppen ihre Fähigkeiten weiterentwickeln können. Das findet dann in den Schulzeiten nachmittags unter der Woche statt.
Wie viele Kinder betreut ihr dann pro Jahr?
Bei unseren Camps nehmen über 2000 Kinder pro Jahr teil. Drei Camps laufen hier dann pro Ferienwoche parallel. Mit unseren über 30 Partnervereinen veranstalten wir insgesamt zwischen 40–50 Camps pro Jahr. Eins ist immer hier in Darmstadt, die anderen beiden sind parallel bei den verschiedenen Partnervereinen.
Die meisten Camps sind hier in Südhessen, aber auch in Bayern oder zum Beispiel an der Ostsee. Partnervereine können sich bei uns über die Homepage melden und dann setzen wir uns zusammen, arbeiten die Rahmenbedingungen aus, und wenn die passen, dann kommen sie mit ins Programm, deutschlandweit.
Bei den Feriencamps können Kinder zwischen 6 und 14 Jahren mitmachen, Mädchen natürlich genauso wie Jungs, und unabhängig davon, ob sie schon im Verein spielen oder nicht. Wir haben meistens 80–90 Kinder pro Camp.
Von ca. 2000 Kindern, die wir hier in der Fußballschule sehen, schaffen es im Schnitt pro Jahr ca. zwei bis drei, in eine der NLZ-Mannschaften aufgenommen zu werden. 90 % der Kids, die hier teilnehmen, spielen bereits in einem Verein in der Umgebung.
Wie läuft die Talentsuche ab?
Wir haben hier eine eigene Scouting-Abteilung, die sich damit befasst. Dazu gehört auch, sich bei den Vereinen in Darmstadt und im Umland umzuschauen. Manchmal kommen auch andere Vereine oder Menschen als Tippgeber auf uns zu und dann schicken wir jemanden von uns hin.
Diejenigen von den Kids, die wir dann beobachten, die mit Herzblut und Können dabei sind und besonderes Talent haben, laden wir hier zum Probetraining ein, um zu schauen, wie das in der Mannschaft harmoniert und passt. Klappt das gut, dann fragen wir die Kinder beziehungsweise bei den Eltern an, ob sie sich vorstellen könnten, bei uns zu spielen.
Das geht über alle Altersklassen, aber bei den Acht- und Neunjährigen geht es bereits los, weil wir da ja für jede Saison eine komplett neue Mannschaft zusammenstellen müssen.
Spielen bei euch nur Jungs?
Bei uns spielen nur Jungs, bisher haben wir keine eigene Mädchen-Mannschaft. Das Thema Frauenfußball ist immer mehr im Kommen und wir haben seit Sommer 2023 eine Kooperation mit der DJK-SSG Darmstadt, die vom NLZ aus nur ein paar hundert Meter weit weg sind. Die Damen-Mannschaft des Partnervereins kann hier auch unsere Felder mitbenutzen. Es gab auch einen Mädchentalenttag letztes Jahr mit unseren Trainern.
Für die Feriencamps konnten sich schon immer auch Mädchen anmelden, aber da lag die Quote bisher bei ungefähr 5 %. In den Osterferien 2024 hatten wir auch das erste Mal ein reines Mädchencamp mit 40 Teilnehmerinnen gehabt, das kam sehr gut an und hat gut funktioniert. Insgesamt sehen wir auch, dass sich der Frauenfußball weiterentwickelt hat und dass das Interesse einfach gestiegen ist. Sowohl bei den Spielerinnen als auch bei den Zuschauern.
Wie hat sich der Verein geändert, seitdem du angefangen hast?
Wie schon erwähnt, als ich angefangen habe, gab es insgesamt nur wenige Mitarbeiter im Verein. Mittlerweile arbeiten insgesamt rund 300 Mitarbeiter beim SV 98. Das ist ein enormes Wachstum für uns. Damals steckte das NLZ und die Fußballschule noch in den Kinderschuhen und wurde teilweise von Praktikanten (wie ich einer war) umgesetzt und ausgeführt. Es war alles sehr spartanisch, aber danach, mit dem Aufstieg in die 2. Liga, ging es bergauf. Der Verein hatte damals schon vor, sich als Offizielles NLZ zertifizieren zu lassen, wir mussten gewisse Kriterien erfüllen, die wir dann auch umgesetzt haben. Ich konnte das NLZ somit mitaufbauen und mitgestalten.
Mit dem Aufstieg mussten wir dann auch solche offiziellen Stellen besetzen wie Pressesprecher, Sicherheitsbeauftragter und vieles mehr – wir mussten zwangsläufig wachsen.
Wie hat sich in den letzten 10 Jahren die Entwicklung des Nachwuchses verändert?
Man merkt insbesondere in der Fußballschule, dass manche Kinder wenig oder gar keinen Sport machen, dass da immer mehr Kinder immer weniger können. Da ist teilweise schon ein Purzelbaum eine große Herausforderung.
Leider stellen wir auch bei den Feriencamps immer mal wieder fest, dass manche Kinder sehr schnell die Lust am Sport verlieren und die Motivation schnell nachlässt, wenn mal etwas nicht funktioniert. Für viele berufstätige Eltern sind unsere Camps aber eine wichtige Betreuungsmöglichkeit in den Ferien und sie sind froh, wenn die Kinder dann bei uns untergekommen sind und sich bewegen.
Die Jungs, die bei uns in die Mannschaft wollen, sind hingegen meist hochmotiviert und zeigen großes Engagement. Wenn du allerdings keine Lust und Freude am Spiel hast, dann wirst du auch gar nicht so weit kommen.
Es gibt auch viel weniger Kids, die richtige Bolzplatz-Kicker sind, wie wir sie aus unserer Kindheit kennen. Wir waren einfach den ganzen Tag draußen nach der Schule und haben Fußball gespielt. Heute ist das nicht mehr so. Viele Kinder verbringen nicht mehr so viel Zeit draußen.
Was wir hier auch immer wieder feststellen in den Feriencamps, wenn wir hier in Darmstadt oder auch im Frankfurter Raum sind, ist, dass der Ton insgesamt schon rauer geworden ist unter den Kids. Aber auch Erwachsenen gegenüber. Im Vergleich dazu ist in den ländlicheren Gegenden, in denen wir auch Camps durchführen, noch etwas mehr Respekt vorhanden. Man darf das auf keinen Fall verallgemeinern, aber das ist leider der Trend, den wir beobachten seit Jahren.

Wie viele Nationen kicken bei euch?
Eine bunte Mischung. Ich würde sagen, knapp 50 % sind Spieler mit Migrationshintergrund – und alle gehen hier weitestgehend fair miteinander um. Sport verbindet einfach. Wir haben schon mal so 5–6 verschiedene Nationen in der Kabine, die zusammenspielen und sich mit dem Verein identifizieren.
Welche Werte vermittelt ihr den Kids?
Die stehen auf der Tafel mit Goldenen Regeln, die hier überall aushängen. Jeder Spieler bekommt vor Saisonstart eine Mappe ausgehändigt mit den wichtigsten Regeln drin.
Die Goldenen Regeln besagen, dass man respektvoll miteinander umgehen soll, sowohl intern als auch dem Gegner gegenüber und auch den Schiedsrichtern. Die Regeln gelten hier für Kinder und Erwachsene gleichermaßen.
Unsere Erwartungshaltung ist hoch hier, anders als vielleicht bei einem Amateurverein. Aber das ist ja auch klar, anders geht das ja gar nicht.
Wie fördert ihr den Team-Spirit?
Zum einen fordern und fördern das die Trainer, weil das ein wichtiger Bestandteil ist, um Erfolg zu haben. Wir haben aber auch schon bei den älteren Jungs mal einen Sportpsychologen ins Team geholt und auch Mentaltrainer, die mit den Jugendlichen dann Teambuilding-Maßnahmen gemacht haben, um den Team-Spirit zu fördern.
Fehlt der Team-Spirit, dann hast du als Mannschaft keinen Erfolg.
Unsere Trainer sind lizensiert und werden auch intern von unseren Spezialisten z.B. für verschiedene Trainingsbereiche geschult. Einen Sportpädagogen haben wir auch im Einsatz, der auch mal bei schulischen Problemen unterstützt. Gerade im Umgang mit Kindern ist für uns auch die schulische Ausbildung ein wichtiger Bestandteil.
Wie gestaltet ihr den Tagesablauf für die Jugendlichen?
Wir hatten jahrelang das Problem, dass je älter die Spieler werden, die Schultage auch länger werden. Und wenn dann erst um 14 oder 15 Uhr Schulschluss ist, sie dann erst noch anreisen müssen aus z.B. Frankfurt oder noch weiter weg, dann beginnt hier das Training erst um 18 oder 19 Uhr. Die Jugendlichen kommen dann nicht vor 22, 23 Uhr nach Hause. Das sind schon sehr lange Tage, weil sie ja schon gegen 7 Uhr morgens das Haus verlassen müssen.
Deshalb haben wir, entsprechend dem Leistungsniveau, Partnerschulen in Darmstadt für unsere Spieler organisiert, auf die unsere Jugendlichen dann gehen können. Fast alle Spieler der U17 und U19 gehen mittlerweile auf eine unserer Partnerschulen.
Da ist dann auch der Stundenplan so getaktet, dass sie möglichst wenig Leerlauf haben und relativ früh aus der Schule rauskommen. Wir können dann mit dem Training schon um 15:30 Uhr beginnen, sind gegen 17:30 Uhr fertig und die Jugendlichen sind in der Regel um 18:30 Uhr daheim. Somit haben sie zumindest noch etwas vom Abend. Das ist für die Jugendlichen dann schon so wie ein normaler Arbeitstag wie bei Erwachsenen.
Mit der alten Regelung war es deutlich stressiger für die Jugendlichen. Auch die Fahrtzeiten sind dadurch verkürzt, und das reduziert zu lange Leerlaufzeiten. Die Spieler können inzwischen teilweise von der Schule zu unserem Trainingszentrum laufen, somit fallen auch die langen Fahrtzeiten hier weg. Wir machen das jetzt seit ca. zwei Jahren schon so und das Feedback ist bisher sehr positiv und kommt bei den Jugendlichen gut an.
Bei uns macht kein Spieler eine Lehre. Das ist eher schwieriger zu vereinbaren. Kaum ein Arbeitgeber gibt den Auszubildenden so früh Feierabend. Kann sein, dass wir dadurch natürlich auch Spieler verlieren. Der Optimalfall wäre: Die Jugendlichen machen ihren Abschluss und steigen direkt in den Profifußball ein, im besten Fall natürlich bei uns. In unserer U21 gibt es einige Spieler, die ihren Schulabschluss bereits in der Tasche haben und sich aktuell komplett auf Fußball konzentrieren. Andere wiederum haben parallel zum Fußball ein Studium aufgenommen. Als Student kann man sich seine Kurse ganz gut einteilen, sodass es mit der Trainingszeit klappt. Voraussetzung ist natürlich, dass das Studium in der Nähe ist.
Tim, danke dir für deine Zeit und für den spannenden Einblick hinter die Kulissen.
Danke euch, hat mir auch Spaß gemacht.