Wie „Rote Linien“ in meine Playlist kam
Ich stehe auf der Zeil in Frankfurt, trinke einen veganen Mango-Lassi und beobachte die Menschen, die nach einer viel zu fettigen Portion Langos den Weihnachtsmarkt verlassen. Es riecht nach Glühwein und Schmutz – ein ganz normaler Duft im Winter einer Großstadt. Neben mir eine Gruppe junger Leute mit Nikolausmützen, eine Frau verkauft leuchtende Weihnachtsbälle, ein Sicherheitsmann in Warnweste spuckt auf den Boden. Während ich die Bahn-App checke, läuft eine zufällige Spotify-Playlist voller empfohlener Songs. Wie so oft landen auch heute wieder neue Lieder in meinen Favoriten, die ich natürlich akkurat in Monats-Playlists sortiere, damit ich auch im Sommer nächsten Jahres noch weiß, wie ich mich im Oktober 2023 gefühlt habe.
Spotify ist schon ziemlich gut darin, mir Songs vorzuschlagen, die mir tatsächlich gefallen – und um einen solchen Song soll es heute gehen: „Rote Linien“ von CONNY.
Ich höre den Beat, bevor ich auf den Text achte. Ein zurückhaltender Groove, nichts Aufdringliches, aber etwas bleibt hängen. Und dann diese Stimme – ruhig, fast beiläufig, als würde jemand dir seine Gedanken zuflüstern, nicht aufzwingen. Es dauert nur ein paar Zeilen, bis ich zurückspiele, um nochmal richtig zuzuhören. Das ist kein Song, der einfach durchläuft. Das ist einer, der dich nachdenken und ruhig werden lässt – mitten im Weihnachtsgewusel Frankfurts.
Anstatt dein Leben lang den Unterschied zu machen
Hast du auch dein Leben lang gelernt ein’ Unterschied zu machen
CONNY macht gesellschaftliche Linien sichtbar
„Rote Linien“ zeigt uns, mit welchen unsichtbaren Grenzen wir Menschen kategorisieren – etwa nach Hautfarbe, Herkunft, sozialem Status oder Geschlecht. Und das nicht immer in Form wütender Parolen, sondern oft mit ruhiger Normalität. Gerade in Zeiten, in denen Debatten über Identität, Migration und soziale Ungleichheit hitzig geführt werden, liefert CONNY einen dringenden Appell: Unsere Differenzen – egal ob real oder konstruiert – sind oft nur Linien, die wir selbst gezogen haben.
Ich halte inne und merke: Dieser Song macht was mit mir. Nicht weil ich alles davon eins zu eins erlebt hätte, sondern weil ich die Dynamiken kenne, von denen er spricht. Die Gespräche über Herkunft, Geschlecht, Zugehörigkeit. Sie sind längst nicht mehr nur akademische Diskurse, sondern Teil des Alltags geworden. In Gesprächen mit Freund:innen. In Diskussionen auf TikTok. In Kommentarspalten, die schneller eskalieren, als man „Identität“ sagen kann.
Drei Themen, ein roter Faden
Der Song deckt systematisch drei große Themenfelder auf – und verbindet sie klug miteinander:
- Soziale Herkunft: CONNY reflektiert, wie „akademischer Hintergrund“ oft als unsichtbares Privileg funktioniert. Wer ihn hat, merkt es oft nicht. Wer ihn nicht hat, merkt es jeden Tag.
- Geschlecht & stereotype Rollenbilder: Warum trauen wir Menschen bestimmte Fähigkeiten oder Verhaltensweisen allein auf Basis ihres Geschlechts zu – oder eben nicht?
- Heimat & Zugehörigkeit: Heimat wird nicht als Ort verstanden, sondern als ein innerer Zustand, der Offenheit, Gemeinschaft und Respekt erlaubt – unabhängig von Pass, Akzent oder Postleitzahl.
CONNY verwebt das alles in nur drei Minuten Musik. Das ist fast unverschämt effizient. Und dabei bleibt der Song poetisch, nahbar, echt. Kein Vortrag, kein Manifest. Eher ein Gespräch, das hängen bleibt.

Ein Song voller Unbehagen und Hoffnung
„Rote Linien“ ist ein Angebot zur Reflexion. Eine Einladung, die eigene Perspektive zu überdenken. CONNY schafft es, strukturelle Themen so zu erzählen, dass sie sich persönlich anfühlen und gleichzeitig die breite Masse ansprechen.
Der Song ermutigt dazu, Brücken zu bauen. Zwischen Klassen, Kulturen, Generationen. Und er tut das mit einer Sprache, die weder überheblich noch wütend ist. Gerade für junge Menschen, die sich zwischen Identitäten, Rollenbildern und Zukunftsfragen bewegen, kann dieser Song ein Kompass sein – oder zumindest ein kleiner Hinweis auf der Suche nach einer Richtung.
Und plötzlich passt dieser Track perfekt zu meinem kurzen Aufenthalt auf der Shoppingmeile Frankfurts. Denn auch hier prallen täglich Welten aufeinander: Konsum, Kultur, Klassen, Klima. Frankfurt eben. Der Song liefert dazu den passenden Soundtrack: kritisch, reflektiert, unaufgeregt.
Zieh ich gerade eine Grenze zu dir?
Wann wird aus „du und ich“ endlich ein wir?
Oder sag – ziehst du du grade eine Grenze zu mir?
Ich speichere Rote Linien, schiebe ihn in meine „November 2025“-Playlist und weiß: Der bleibt. Vielleicht begleitet er mich durch die nächsten Diskussionen. Vielleicht erinnert er mich daran, wo die Linien verlaufen und wo ich sie bewusst überschreiten will. Und vielleicht ist das das größte Kompliment, das man einem Song machen kann, dass er nicht nur gehört, sondern gespürt wird.
Wer noch mehr Songs der Woche finden möchte, kann dies über diesen Link hier tun. Aber Achtung: der Musikgeschmack unserer Redaktion ist manchmal besonders.




