The Hitchhiker’s Guide to Wuppertal: Utopiastadt

von | Aug. 22, 2025

Zeigt die Schwebebahn in Wuppertal

Solltest du jemals per Anhalter durch Wuppertal reisen wollen, kommen hier ein paar enorm wichtige Hinweise.
Allesamt erarbeitet in drei Jahren Masterstudium an der angeblich hässlichsten Uni Deutschlands und damit drei Jahren Lebenszeit in Wuppertal:

  • Schwebebahnfahren ist für Menschen anfangs 3-5 Mal aufregend, für Hundis wahrscheinlich immer – sei vorsichtig.
  • Sobald man die Stadtgrenze überschreitet, beginnt es zu regnen – du solltest immer einen Regenschirm dabei haben.
  • Sperrmüll im Briller Viertel bietet ein fantastisches Plünder-Erlebnis – besorg dir einen Lastwagen.
  • Das Bergische Land heißt nicht grundlos so – trainiere deine Beine.
  • Sollte dir eine vollständig rot gekleidete Person begegnen – sprich nicht mit ihr.
  • Wuppertals Streetart ist geprägt von Eulen-Graffitis – ???
  • Es gibt nur Aldi Nord – gewöhn dich einfach daran.

Diese Hinweise sind notwendig, wenn du Wuppertal nicht nur durchqueren, sondern überleben – oder gar lieben lernen willst. Ich spreche aus Erfahrung: ich hab dort gewohnt, studiert, gelacht und gestaunt. Und obwohl ich längst wieder im Rhein-Main-Gebiet lebe, erwische ich mich regelmäßig dabei, wie ich die Stadt (mehr oder weniger heimlich) vermisse.

Wann immer ich irgendwo in NRW bin, zieht es mich magisch nach Wuppi – für eine vegane Pita bei Dio’s Taverne, ein Wiedersehen mit alten Freund*innen und den obligatorischen Blick auf meine ehemalige Wohnung, die sich hartnäckig weigert, sich auch nur ein bisschen zu verändern.

Und während dort die Zeit stillzustehen scheint, tut sich andernorts in der Stadt umso mehr:

Willkommen in der Utopiastadt – einem urbanen Experimentierfeld, das beweist, wie viel möglich ist, wenn viele gemeinsam an morgen bauen.

Die Utopiastadt liegt direkt an der Nordbahntrasse – einem ehemaligen Bahndamm, der heute als autofreier Rad- und Fußweg quer durch Wuppertals Norden führt. Hier befindet sich ein soziokulturelles Kraftwerk, das zeigt, wie aus Visionen Wirklichkeit werden kann. Die Haltung der Menschen dort? Offen, solidarisch, nachhaltig.

Betreten wird die Area der Utopiastadt durch ein gemeinschaftlich saniertes Bahnhofsgebäude, das inzwischen als „Hutmacher“ bekannt ist. Über Jahre ist hier ein Ort entstanden, der Coworking-Spaces mit Konzerten, Urban Gardening mit Fahrradverleih und Denkmalpflege mit Zukunftstechnologien verbindet. 

Statt Bahnhofskneipe gibt’s Ideenwettbewerbe und offene Werkstätten – und ein Café, dessen Tresen aus ausrangierten Büchern gebaut wurde. Die Möbel? Vom Sperrmüll gerettet. Das Bier? Bio und lokal gebraut – ein Getränk, das nicht nur schmeckt, sondern auch Projekte im Viertel finanziert. Hat jemand kein Geld, um sich einen Drink zu leisten, ist das auch kein Problem. Man kann im Voraus Getränke bezahlen – für Menschen, die weniger haben als sie selbst. 

Zeigt einen Teil des Café Hutmacher in der Utopiastadt Wuppertal

„Wuppertal schminkt sich nicht.“

Heinrich Böll

Verlässt man das Café, weht einem schon dieser spezielle Spirit um die Nase. Es herrscht ein reges Treiben: gegenüber wird von Freiwilligen aus diversen Materialien eine Minigolfbahn gebaut, die anschließend im Rahmen einer Veranstaltung bespielt wird. Dreht man sich nach rechts, erblickt man fleißige Helferlein, die Fahrräder reparieren und kostenfrei verleihen, um die fantastisch-hügellose Strecke der Nordbahntrasse zu befahren. Auf der linken Seite stehen Interessierte vorm Verschenke-Schrank und suchen nach neuen alten Schätzen.

Gerade junge Leute zieht es hierher. Vielleicht, weil man hier einfach Dinge ausprobieren darf. Vielleicht auch, weil sich hier das große Thema Zukunft plötzlich ganz praktisch anfühlt. Aber: hier treffen sich Menschen aller Altersklassen. Ob sie über Stadtentwicklung diskutieren oder nach einer Tour auf dem Rennrad einfach einen Kaffee trinken – das Motto ist „Alles kann. Nichts muss“.

In der Utopiastadt ist man umgeben von Leuten, die nicht darauf warten, dass sich was ändert. Die meisten, die hier sind, haben Bock, etwas für ihre Gemeinschaft unsere Gesellschaft zu tun. Und diese Atmosphäre überträgt sich: auch ich will mitmachen, nicht nur zugucken. Wäre ich einen Tag früher dort gewesen, hätte ich im Rahmen des Utopiastadt-Workouts die Möglichkeit, mit anzupacken. Egal ob Anfänger*in oder Profi – Jeden Samstag ab 11 Uhr sind alle zum anpacken willkommen. Vielleicht ja beim nächsten Mal.

Generell wird hier das Mit- und Selbermachen großgeschrieben. Es wird repariert, getüftelt, gebaut – von Lastenrad-Sharing über Urban Gardening bis zum Konzert, bei dem das Publikum am Ende selbst entscheidet, was der Abend wert war. „Only Hut“ heißt das Format – charmant unkommerziell. Bei allen Veranstaltungen gilt: Geld ist willkommen, aber keine Voraussetzung zur Teilnahme.

In der Utopiastadt wachsen aber auch Ideen, die sich über die Nordbahntrasse hinweg gesellschaftlich ausbreiten: Aquaponik, Foodsharing, Opendata, Smart-City-Projekte – viele davon in enger Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen wie dem Wuppertal Institut oder dem Zentrum für Transformationsforschung (TransZent). Aus der Theorie wird Praxis – so utopisch wie es der Name vorgibt scheint das also alles doch gar nicht zu sein.

Was einst als kleines Kulturprojekt begann, ist heute ein überregionales Stadtlabor, das weit über Wuppertal hinausstrahlt. Mehr als 200 Ehrenamtliche halten die Utopiastadt am Laufen – mit Herz, Hingabe und einer ordentlichen Portion Improvisationstalent. Und genau das macht den Reiz aus: Utopiastadt ist kein fertiger Ort, sondern eine Haltung. Eine, die zeigt, wie Stadt auch anders geht – solidarisch, kreativ und ziemlich lebendig.

Wenn du also wissen willst, wie Zukunft im Kleinen aussieht, wie Beteiligung funktioniert oder wie sich Stadt tatsächlich verändern lässt, solltest du dich beim nächsten Abstecher nach NRW für Wuppertal statt Köln entscheiden. Wirklich – es lohnt sich!

Wuppi 4 eva


Chrissy
Titelbild: Foto von Simon Wierzba auf Unsplash

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