Deutschrap polarisiert. Für die einen ist es die nachvollziehbare Stimme der Straße, für die anderen nur Lärm und Provokation. Doch manchmal kommt ein Mensch daher, der alles in ein neues Licht rückt. „Babo – Die Haftbefehl-Story“, die neue Netflix-Doku über den Offenbacher Rapper Haftbefehl, beweist genau das. Sie zeigt nicht nur den Aufstieg eines der einflussreichsten Künstler Deutschlands, sondern auch seinen tiefen Fall. Und sie erzählt auf ungeschönte Art und Weise eine Geschichte, die weit über Rap, Fame und Streaming-Zahlen hinausgeht.
Ich habe einige Jahre in einem Jugendzentrum im Kreis Offenbach gearbeitet und ich erinnere mich noch gut an die Gespräche mit Jugendlichen, für die Rapper wie Haftbefehl nicht nur Lifestyle-Idole, sondern Identifikationsfiguren waren. Ihre Texte sprachen von der Straße, von Armut, Gewalt, Sehnsucht, Aufstieg und Identität. Geschichten, die den Jugendlichen vertraut vorkamen, weil sie sich in ihnen wiedererkannten. Und genau deshalb ist diese Doku nicht nur ein Publicity-Ding für Haftis Fans, sondern ein gesellschaftlich relevantes Dokument, das Jugendlichen und Erwachsenen zeigt, wie tief Schmerz und Herkunft in Biografien eingreifen – und wie schwierig es ist, auf einem geraden Weg zu bleiben, wenn die Umstände dich ständig herausfordern.
Vom Block auf den Bildschirm – eine Geschichte, die unter die Haut geht
Aykut Anhan, besser bekannt als Haftbefehl, wuchs im Offenbacher Mainparkviertel auf. Die Doku zeigt sein Leben von seiner Kindheit bis heute. Die Zuschauer:innen werden konfrontiert mit Verlust, Drogen, Absturz, Ruhm und Haftbefehls Versuch, sich selbst nicht vollständig zu verlieren. Dabei wird deutlich: Dieser Weg, begleitet von Aykuts Familie und Freunden, ist ein Ringen um Würde, Zugehörigkeit und Heilung.
Die Doku zeigt offen seinen jahrelangen Drogenkonsum, den Schmerz über den Suizid seines Vaters, die zermürbende Wirkung des Ruhms und wie Hafti schließlich durch einen überraschenden Move seines kleinen Bruders Cem Anhan (auch bekannt als Capo) in einer Entzugsklinik landet, um gesund zu werden. Das ist keine Heldenerzählung, sondern ein ehrlicher Blick auf einen Mann, der zwischen Straßenrap, Verantwortung, Suchterkrankung, Liebe und Selbstzerstörung pendelt.
Haftbefehls Musik war nie nur Entertainment. Sie war immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Er spricht eine Sprache, die viele Jugendliche aus migrantischen Familien oder prekären Lebensverhältnissen verstehen. Nicht nur, weil er Deutsch, Türkisch, Kurdisch und Straßenslang mixt, sondern weil er in Bildern denkt, die aus dem echten Leben stammen. In dieser Doku wird deutlich, dass seine Musik nicht trotz seiner Geschichte funktioniert, sondern wegen ihr. Mit den persönlichen Einblicken aus der Doku bekommen Haftbefehls Lieder eine noch viel tiefere Bedeutung, als sie es vorher schon hatten.

Wenn Liedermacher und Rapper sich die Hand reichen
Besonders berührend ist der Moment in der Doku, in dem Haftbefehl über das Lied „In meinem Garten“ von Reinhard Mey spricht. Der melancholische Song aus dem Jahr 1970 begleitet ihn auf der Suche nach sich selbst. Was als persönliche Szene beginnt, löst im Netz einen regelrechten Hype aus: Der Song wird auf Social Media immer wieder geteilt, in YouTube-Kommentaren feiern Fans das Crossover zwischen Poesie und Straße und schließlich landet Reinhard Mey in den deutschen Spotify-Charts.
Doch es bleibt nicht bei viralen Reaktionen: Reinhard Mey selbst hat sich nach Erscheinen der Doku öffentlich an Haftbefehl gewandt. In einem bewegenden Instagram-Post drückt er seine Wertschätzung aus – für die Ehrlichkeit, den Mut zur Verletzlichkeit und die Kraft der Musik als verbindendes Element. Ein Brückenschlag, der kaum symbolischer sein könnte: Hier reicht ein deutscher Liedermacher, der für Feinfühligkeit und Wortgewalt steht, einem Rapper aus dem Offenbacher Block die Hand. Und zeigt damit, dass Kunst – egal aus welchem Milieu – heilen, verbinden und verändern kann.
Genau das ist die vielleicht größte Stärke dieser Doku: Sie erzählt nicht nur eine Biografie, sondern öffnet Räume. Zwischen Hochhaus und Konzertsaal, Trauma und Trost, Straße und Garten. Und sie zeigt: Es gibt keinen falschen Ort für echte Gefühle.
Fazit: Diese Doku ist ein Weckruf
Der Stadtschüler*innenrat Offenbach hat es bereits gefordert: Die Biografie und die Lieder von Haftbefehl sollten Teil des Schulunterrichts werden. Nicht, um ihn als Vorbild zu feiern, sondern um Themen wie Sprachvielfalt, Herkunft, Trauma und Sucht in den Bildungsbereich zu holen. Wer Jugendliche wirklich erreichen will, muss auch ihre Lebensrealitäten ernst nehmen – und nicht nur Literatur von 1874 analysieren. Diese Doku bietet dafür eine authentische Grundlage: keine pädagogische Verpackung, sondern eine echte Lebensgeschichte.
Die Doku ist roh. Sie ist ehrlich. Und sie ist ein Spotlight auf Themen, die wir in der Schule, bei Arbeit und in unserem Alltag oft nur beiläufig behandeln: Herkunft, Sprache, Traumata, Drogen – hier kommt alles zusammen. Haftbefehls Geschichte ist auch die Geschichte vieler anderer, die nur viel zu selten erzählt wird. „Babo – Die Haftbefehl-Story“ ist ein kraftvolles Stück Gegenwartskultur und ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Jugend, Herkunft und Absturz – und ein Film, der definitiv mehr kann, als die Netflix-Charts zu stürmen.
Selbst wenn du keinen Rap hörst: gib dir diese Dokumentation. Die Doku ist voller Eindrücke, die uns als Gesellschaft perfekt den Spiegel vorhalten. Sie ist eine lebensnahe Studie über Themen, die uns alle angehen. Wer verstehen will, warum Rap so viele junge Menschen erreicht und warum Schule, Jugendhilfe, Politik und eigentlich alle Menschen sich mit diesen Stimmen auseinandersetzen müssen, wird durch die Doku sehr viel lernen.
Falls du das liest, Hafti: Danke & gute Besserung <3




