Wenn man die Werbebranche um ein abschließendes, ehrliches Statement zum Thema Performance Marketing bitten würde, würde das so lauten: „Sorry, Leute!“
Es gibt Momente im Jahr, da möchte man seinen Laptop mit warmem Honig einreiben und im Wald vergraben. Aus purem Selbstschutz. Black Friday ist so ein Moment. Plötzlich wird es schlimmer als sonst: Es knallt auf dem Bildschirm wie in einer neon-grell ausgeleuchteten Spielhölle. Fernseher! Kühlschränke! Sportschuhe! Und irgendwann fragt man sich: Wer macht das? Wer sitzt da, unsichtbar, in einem grauen Büro, irgendwo im Nirgendwo, und schickt uns diese aufdringlichen Anzeigen hinterher, reduziert dabei unsere gesamte digitale Existenz auf die einer wehrlosen Beute im Scheinwerferlicht am Ende des Sales Funnels?
Nun, ich. Also: wir. Oder genauer: die Branche, die sich „Werbung“ nennt und mit Performance Marketing eine moderne Folter entwickelt hat, die alle zutiefst hassen. Und jetzt, wo der Black Friday über die Nation rollt wie der einzige Einkaufswagen mit vier funktionierenden Rädern im Discounter deines Vertrauens, ist der richtige Moment gekommen, um endlich auszupacken: Wir Werber hassen es auch!
Ein Werber packt aus
Wie man die Menschheit aus Versehen in den Wahnsinn treibt
Ich war mal einer von denen, die mit leicht glänzenden Augen erklärten: „Endlich können wir alles messen!“ Ein Klick hier, ein View da, ein sogenannter „Touchpoint“ dort. Es war berauschend. Plötzlich war die Unsicherheit verschwunden. Der Kunde konnte nicht mehr mit Bauchgefühl und Putzfrauentest(1) liebgewonnene Ideen abschießen.
- „Witzig, aber versteht man nicht.“
–> Versteht man doch. Deine Zielgruppe hat zu 94 % Abitur! - „Was hat denn ein Alpaka mit unserem Unternehmen zu tun?“
–> Das Banner mit Benito (wir wollen das Tier doch mal beim Namen nennen) wurde 800-mal öfter geklickt als dein tanzender HR-Leiter im durchgeschwitzten babyblauen Business-Hemd! - „Das Logo ist zu klein.“
–> okay, manchen Menschen ist auch mit messbaren Daten nicht zu helfen …
Erstmal toll. Andererseits: Werbung musste nicht mehr unterhalten, weil das Dashboard eines Analysetools im Halbstundentakt neue Zahlen ausspuckte, die genau sagten, was Menschen wollten. Für Konsumenten der Horror, für Werber war diese neue Dimension des Digital-Stalking ein Talking-Piece für den harten Pitch um Kunden-Budgets. Da ist so mancher präsentierenden Werbe-Rampensau im Konfi vor Begeisterung die PowerPoint-Leiste aufgeplatzt.
Ab sofort rätselte man nicht mehr, man wartete auf den leichtsinnigen Klick zur falschen Zeit und dann wusste man Bescheid. Axel F. aus Schwieberdingen hat sich am Donnerstagabend um 21:14 Uhr im Internet ein paar Jeans angeschaut, und der lauernde Google-AdSense-Algorithmus entfesselte ein Überzeugungs-Massaker. Die Operation Denim-Hölle wurde gestartet und in den folgenden Stunden und Tagen tobte auf Axels Screens ein Angebots-Angriffskrieg ohnegleichen. Straight, Skinny, locker im Schritt, stonewashed, tapered – bis zum Wochenende hatte der naive Konsum-Klicker alles gesehen, was man um Männerbeine wickeln könnte.
Das Problem war nur: Axel wollte nichts davon. Wirklich nicht. Er hatte tatsächlich nur aus Langeweile nach Jeans gegoogelt. Ein einziges Mal.
Und auch nicht jeder, der einmal kurz nach Fernsehern schaut, hat in der linken Hand die Kreditkarte griffbereit. Manche tun das, weil sie wissen wollen, ob es 8K-Auflösung schafft, den deutschen Nachrichten-Presentern mit Tiefkühl-Charisma ein bisschen Schärfe zu verleihen. Oder, wie gesagt, aus Langeweile (es wäre mal spannend herauszufinden, welchen Anteil Langeweile am BIP hat).
Besonders gute Nerven brauchen Online-Shopper, die nach erfolgtem Kauf mit Angeboten zum eben frisch erworbenen Produkt überrannt werden. Da hilft meist nur noch ein professioneller Laptop-Exorzismus – oder eben der Weg in den Wald.
Denn Performance Marketing funktioniert wie ein schlecht erzogener Hund: Hat er einmal gerochen, dass du an Fernsehern interessiert sein könntest, lässt er dich nie wieder in Ruhe. Nie. Du öffnest Nachrichten: Fernseher. Du liest Kulturkritik: Fernseher. Du schaust das Rezept für überbackene Auberginen nach: Fernseher neben Aubergine. Du klickst ein politisches Interview – daneben: ein Fernseher, der dir glaubwürdig versichert, eine solide Alternative zu sein. Olé OLED.
Man fühlt das Drama, auch wenn man selbst das Monster erschaffen hat.
Die Social-Media-Eskalation
Natürlich gibt es noch eine Steigerung – Werbung ist ja nicht umsonst so verhasst. Man muss nämlich nicht einmal mehr klicken: Die besonders aufdringlichen Verführer warten auch abseits der digitalen Konsumtempel. Warum ist das schlimm? Ganz einfach: Stell dir vor, in der realen Welt triffst du dich mit deinen Freunden und ihr geht was trinken. Wie aus dem Nichts steht plötzlich ein Verkäufer mit einem Flachbildfernseher neben dem Tisch und labert los: „Du hast dir vor vier Stunden unser Fernseh-Angebot angeschaut. Hier habe ich ergänzend dazu ein ganz besonderes Schnäppchen.“
Wie wäre deine Reaktion?
- Gut, dass ich nicht bei „Beates-Bumms-Bude“ nach Sex-Toys geschaut habe
- Hass auf alle Verkäufer und speziell auf Fernsehgeräte
- Die Shopping-Libido abgekühlt bis unter den Gefrierpunkt
- Ja, hurra, danke für die Störung, hier ist meine Kreditkarte. Nimm reichlich!
Niemand hat jemals Tür Nummer 4 gewählt. Werber wissen das.
Und trotzdem: Manchmal doomscrolle ich durch Social Media und stolpere über den hässlichen Beitrag eines mir unbekannten besorgten Bürgers, der seine Meinung so weit rechts aus dem Fenster hält, dass wirklich jede extreme Partei sagen würde: „Nee, also das ist uns jetzt zu krass.“ Und direkt darunter: eine Anzeige für ein deutsches Oberklasse-Automobil. Ich weiß bis heute nicht, wie der Algorithmus auf die Idee kommen konnte, mich gleichzeitig:
- politisch in den braunen Sumpf zu stoßen
- und in eine luxuriös ausgestattete Limousine setzen zu wollen.
Auch unklar, welchen Eindruck der Autokonzern bei mir hinterlassen möchte. Die Demokratie fährt mit unserer Unterstützung auf Ledersitzen zur Hölle? Für umweltbewusste Faschisten gerne auch elektrisch – frag nach unseren attraktiven Leasing-Angeboten!
Die wichtigste und von Studien bestätigte Reaktion: Die Marke verliert an Sympathie. Störungen im Privatleben (Social Media gehört dazu) entschuldigt der Mensch nicht so schnell, reagiert bestenfalls genervt, im schlimmsten Fall mit Konsumentzug.
Kann das die Performance-Marketing-Bulldozer stoppen? Willkommen in der Mafo, der Vorhölle für Argumentations-Söldner: „Unser Targeting funktioniert, wir verkaufen ja trotzdem Kühlschränke und Fernseher.“
Nach dieser Logik ist das Bett der gefährlichste Platz der Welt, weil dort die meisten Menschen sterben. Werber würden also die Überholspur einer Autobahn für ein Nickerchen wählen. Aber die lassen sich ja auch seit Jahren einreden, dass das Streichen des Juniors auf der Visi eine Beförderung ist. Yeah, nur noch 14 Stufen bis zum stellvertretenden Group-Head-Art auf der Karriere-Leiter der Reklame-Fabrik.
Für den in drei LinkedIn-Learning-Kursen und von einer Steve-Jobs-Biografie gecoachten Werbeleiter klingt das absolut nachvollziehbar und muss im nächsten Selbstbeweihräucherungspost direkt aus dem Workshop ganz fresh mal gedroppt werden.

Warum die Branche lügt
Wir Werber entschuldigen uns seit Jahren mit derselben Geschichte: „Wir liefern Menschen genau das, was sie interessiert.“ Was in Wahrheit bedeutet: Wir liefern Menschen das, was sie einmal aus Versehen angeklickt haben, weil wir uns echt nicht mehr Mühe machen wollen, herauszufinden, was sie wirklich wollen.
Der Unterschied ist subtil, aber entscheidend. Wenn du einmal kurz „Was kostet eigentlich ein 75-Zoll-Fernseher?“ eingibst, ist das für uns kein neutrales Interesse. Es ist ein Signalfeuer. Ein Liebesbrief. Ein Eheversprechen. Die pure Hingabe.
Unser Algorithmus interpretiert diese kleine Frage als den emotionalsten Moment deines Lebens, denn Psychologen sagen uns, dass jeder Klick getrieben ist von der unwiderstehlichen Lust auf das Produkt, und Scrollen wird gesteuert von unterbewussten Verhaltensmustern, die seit der Steinzeit unser Handeln bestimmen.
So denken wir. Bisschen egoistisch und nah am Narzissmus, zu glauben, dass sich alles im Leben um uns und unser Produkt dreht.
Aber deshalb verfolgen wir dich. Überall hin. Ohne schlechtes Gewissen. Wir nennen das: Retargeting. Du nennst es: digitales Stalken ohne Rücksicht auf Privatleben und fühlst dich, als wärst du gerade an der dunklen Endstation aus einer S-Bahn ausgestiegen und merkst, dass du nicht allein bist.
Die Wahrheit, die niemand hören will: Performance Marketing funktioniert gar nicht.
Die gesamte Branche ist wie ein fast vergessener Geldautomat in diesem Dorf an der Endstation an einem Sonntagabend: beleuchtet, einsam und erstaunlich leer.
Natürlich behaupten wir etwas anderes. Wir stellen Folien her, auf denen Pfeile in die richtige Richtung zeigen. Wir jonglieren mit Begriffen wie „Conversion Funnel“, „Attribution Window“, „Customer Journey“ – Wörter, die so leer sind wie ein Adventskalender am 3. Dezember in einem Schulkinder-Haushalt.
Aber die Wahrheit, die man hinter vorgehaltener Hand in Fachkreisen flüstert, ist diese:
Es verkauft nichts. Gar nichts. Ganz im Gegenteil. Es nervt nur alle.
Die meisten Anzeigen werden weggewischt, weggescrollt, weggeschrien oder wegignoriert. Was bedeutet „die meisten“, fragst du? Wie viele werden übersehen oder ignoriert, wie viele geklickt? Eine von zehn? Eine von hundert? Eine von tausend? Eine von zehntausend? Eine von WIEVIEL? WOW!
Die echten Zahlen sind besorgniserregend groß. Da muss statistisch eine Kleinstadt belästigt werden, bevor der Erste klickt.
Und die wenigen, die angeblich „funktionieren“, basieren oft auf Zufall, Korrelation oder der Tatsache, dass jemand sowieso gerade auf dem Weg war, einen Kühlschrank zu kaufen.
Wir tun dann so, als hätten wir ihn überzeugt. Ursache und Wirkung waren schon immer unklare Konzepte bei der Ideenfindung in der Werbung. Vielleicht haben wir das, vielleicht hat er aber auch nur kaltlächelnd abgewartet, bis der Onlineshop den nächsten Gutschein unters Volk wirft.
Der Ursprung der Apokalypse
Wie kamen Werber auf das schmale Brett, Performance Marketing als Wundermittel zu sehen? Erstens, weil man es gut vermitteln kann. Stark in Mathe und gut mit Zahlen trifft auf ca. 0 % aller Marketing-Fachkräfte zu. Und die schon erwähnten dynamischen Pfeile und aufsteigenden Kurven machen in den Händen erfahrener Reklameveteranen jedes neue Tool, jeden noch so idiotischen Prozess und jede Hightech-befeuerte Art, Schafe zu zählen, zu einem unwiderstehlichen Shiny Object.
Black Friday: Der Endgegner
Und jetzt sitzen wir hier, wieder einmal, in der letzten Novemberwoche. Und auch wenn wir nicht in Versuchung geraten, macht das tragisch-einfallslose Schaulaufen der Produkte ein bisschen traurig. Der letzte Markenstratege hat längst gekündigt, in Holland eine Strandbar namens Branding(2) aufgemacht und weint sich in den Schlaf, wenn er an damals zurückdenkt.
Früher war mehr Lametta. Also: Witz, Emotion, Überraschung. Kam nicht immer bei jedem gut an, aber man hat sich Mühe gegeben. Und der Verbraucher hat es gespürt. Werbung war einmal Teil der Kultur, hat den Zeitgeist gespürt und widergespiegelt, hat inspiriert und tatsächlich auch mal Trends gesetzt. Über Werbung hat man geredet – und nicht immer schlecht!
Wenn ich damals geahnt hätte, dass nach Nike-Werbespots die Sonderangebots-Banner mit drei Fernsehern in einer Reihe der heißeste Scheiß werden, wäre ich ganz sicher ein guter Fahrlehrer oder Verwaltungsfachangestellter geworden …




