West Wing, East Wing, Chicken Wing: Warum Empörung kein Aktivismus ist

von | Okt. 24, 2025

The White House

Wenn ein Engel seine Flügel kriegt, dann klingelt ein Glöckchen.
Wenn ein gescheiterter Immobilienhai, Reality-TV-Sternchen, bestechlicher Krimineller, verurteilter Sexualstraftäter und Hobby-Golfer zum Präsidenten gewählt wird, dann verliert ein Weißes Haus seine Flügel.

Wo früher Visionen flogen, flattern heute traurige Schlagzeilen auf Halbmast. Wo einmal Verantwortung war, herrscht der reine Selbsterhalt – laut, grell und ohne jede Schamgrenze.

Als Politik und der West Wing noch nach Idealismus rochen

Früher gab es The West Wing, Aaron Sorkins hymnische Serie über Politik als moralische Pflichtübung, über Intellekt und Integrität in Maßanzügen. Es war die Zeit, als das Oval Office noch nach Idealismus roch und nicht nach verbranntem Plastik. Als die besten Drehbuchschreiber gefordert waren, intelligente, spritzige Sätze zu Papier zu bringen – weil Politiker damals gebildet waren und intelligent und spritzig formulieren konnten.

Heute steht da ein anderer Präsident und sagt: „Ich reiß das alles ab.“ Und meint nicht nur die Flügel des Weißen Hauses, sondern gleich das ganze Dach der Zivilisation.

Und wir? Wir regen uns auf.
Klicken, teilen, zittern, posten.

Empörung ist kein Engagement

Dabei haben wir eigentlich längst verstanden, dass es um Provokation geht. Nicht um den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes, sondern um ein krankes Ego, das eigene Bankkonto und ausreichend Empörung, um einen Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Wenigstens halbwegs. Eigentlich sollte das niemanden mehr überraschen – und man könnte sich wieder wichtigeren Dingen widmen. Nämlich solchen, die man tatsächlich ändern kann.

Wir zünden aber immer noch digitale Kerzen an, schicken Wut-Emojis in die Welt und glauben, Empörung sei eine Form des Handelns.
Aber Empörung ohne Handlung ist wie ein Chicken Wing ohne Fleisch: klebrig, fettig, sinnlos. Auch das witzigste geteilte Meme erreicht nicht den Verursacher, sondern füttert nur dein Gefühl von Ohnmacht und Wut.

Das Problem ist nicht nur der Präsident. Das Problem ist, dass wir uns von ihm hypnotisieren lassen – in endlosen Doomscroll-Schleifen zwischen Zynismus und Herzrasen.
Social Media verkauft uns Empathie als Aktivismus.
Dabei sind es nur Reflexe. Algorithmisch optimierte Aufschreie.

Wirkliches Engagement braucht Zeit, Nähe, Reibung. Es entsteht in Vereinen, Stadtratsräumen und Klassenzimmern – nicht im Kommentarbereich. Demokratie ist kein Instant-Produkt, sie braucht Menschen, die auftauchen, nicht nur posten.

Demokratie brennt global – gelöscht wird sie lokal

Vielleicht sollten wir mal wieder den Stecker ziehen. Uns daran erinnern, dass das Weiße Haus nicht unser Haus ist. Dass Demokratie zwar global brennt, aber lokal gelöscht werden muss: im Gespräch, in der Stadt, beim Wählen – nicht aggressiv und aufgehetzt in der Kommentarspalte eines Social-Media-Riesen. Eines Unternehmens also, das gerade damit reich geworden ist, dass wir aggressiv und aufgehetzt kommentieren.

Lasst euch nicht in Social Media aufhetzen!

Jede wütende Reaktion ist eine Werbeeinblendung wert. Empörung hält uns im System – und das lebt von uns und unserer Zeit. Was als moralischer Reflex beginnt, endet als Datenpaket im globalen Werbenetz.

Also: weniger Scroll, mehr Soul.
Weniger West Wing-Nostalgie, mehr Rückgrat.
Und wenn das nächste Mal ein Präsident durchdreht, dann lass das Internet klingeln – ohne dich.

Puh, dann beruhigen wir uns mal wieder. Und trotzdem, auch wenn ich es erwähnt habe: Man sollte im Moment West Wing nicht schauen. Der Unterschied zwischen Aaron Sorkins Weltklasse-Drehbuch mit geschmeidigen, smarten Texten und den bösartigen verbalen Ausfällen des stammelnden Idioten macht nur wieder wütend.

Als bekennender Bradley-Whitford-, Matthew-Perry- und Aaron-Sorkin-Fan muss ich auch darauf hinweisen, dass selbst die nach nur einer Staffel abgesetzte Spitzenklasse-Serie Studio 60 on the Sunset Strip angesichts der vielen gecancelten Late-Night-Shows aktuell einen schalen Beigeschmack hat – und besser gemieden werden sollte.

Andererseits: Amanda Peet 🥰
Wer Amanda und Matthew Perry mag, Politik satt hat und gerne Filme schaut, wo der Mob-Boss noch Mob-Boss ist, und nicht Präsident: The whole Nine Yards. Und schon ist die social-media-induzierte schlechte Laune und das Ohnmachtsgefühl wieder verschwunden.

Sucht euch positive Dinge. Dinge, die euch Kraft geben, statt Energie zu ziehen. Menschen, die zuhören, statt nur in Kommentarspalten abhängen. Und engagiert euch – wie gesagt – für das, was ihr wirklich verändern könnt. Das kann klein anfangen: im Gespräch, in der Nachbarschaft, im Verein, in der Schule. Denn wer dort anpackt, verändert mehr als jedes empörte Posting es je könnte.

Man kann sich sehr gut an dem US-amerikanischen evangelischen Theologen, Philosophen, Politikwissenschaftler und Autor Reinhold Niebur (*1892, †1971) orientieren:

Gott gebe mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern,
die ich ändern kann,
und die Weisheit,
das eine vom anderen zu unterscheiden.

Reinhold Niebuhr

Das ist eine sehr visionäre und weise Gebrauchsanweisung, um in Social Media gesund zu bleiben.


Frank
Foto von David Everett Strickler auf Unsplash

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